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Archiv-Artikel

Lasst den Schweinehund laufen!

KASTEIUNG Gerade zu Beginn des Jahres quälen sich die Menschen gern mit eiskaltem Wasser, Sport oder Darmspülungen. Und das soll guttun? Ein paar warme Gedanken aus dem Whirlpool

VON MARTIN REICHERT

Mögen Hunde auch am meisten unter dem Silvesterfeuerwerk gelitten haben – noch schlimmer dran sind die inneren Schweinehunde, die zu Beginn des neuen Jahres massenhaft bekämpft und misshandelt werden. So sieht man schon zu Neujahr an windumtosten deutschen Stränden zumeist ältere Damen und Herren sich entkleiden, um sich in eiskalte Fluten zu stürzen. Sie nennen sich Eis- oder Winterbader. Und haben womöglich einen Sockenschuss?

Solche Gedanken kreisen zumindest im Kopf, wenn man sich zu Jahresbeginn an einen Ort begibt, der so weit von einer Eisbadestelle entfernt liegt wie der Nord- vom Südpol: in einen windelweich-lauen Whirlpool in einer Schwulensauna.

Hoh, hoh: warme Brüder! Sitzen alle still im Becken, haben die letzten Tage durchgefeiert und blicken trotzdem noch wie auf Beute lauernde Krokodile – die Schwulensauna ist schließlich nicht nur zum Saunieren da. Vielmehr bietet sie eine Infrastruktur, die allen körperlich-menschlichen Bedürfnissen entspricht: Es gibt Aufgüsse mit Sliwowitz, eine Darkroom-Dampfsauna, Orgienräume und Kämmerchen, Raucher-Lounge, Bier und Pizza. Hier an diesem Ort hat es der innere Schweinehund so richtig gut. Auslauf hat er, gestreichelt wird er! Dies ist ein Ort, der Gesundheit durch Schwitzen befördert und zugleich dem Lustvollen gewidmet ist. Wellness im besten Sinne also.

Zugegeben: Auch hier gibt es genügend Menschen, die ansprechend danach aussehen, als hätten sie sich viel gequält in letzter Zeit. Trizeps, Bizeps und so weiter. Durch Abwesenheit glänzt aber jene gezielt asexuelle, vor Reinheit und Gesundheit strotzende Atmosphäre, die man ansonsten in öffentlich zugänglichen Nassbereichen antrifft. Asketische Leiber, die mit ernster Miene Ganzheitlichkeit verkörpern – und einen Aufenthalt in der Sauna nur als Nachgang zu einer vorhergehenden Anstrengung denken wollen, sei sie beruflicher oder sportlicher Natur. Wellness? Hah, hah: ist was für Weicheier, Versager und natürlich Warmduscher.

Solche Menschen also, die ihren inneren Schweinehund nicht im Griff haben. Dieser Schweinehund ist eine Allegorie der Willensschwäche. Er verkörpert mit kalter Schnauze das schlechte Gewissen, nicht gegen die eigenen Widerstände angekommen zu sein, und ist das deutsche Synonym für das beliebt gewordene Fremdwort Prokrastination.

Der innere Schweinehund, er ist nicht übersetzbar. Im Gegenteil ist er so deutsch, dass man mit ihm locker bis nach Stalingrad marschieren kann: Er gehörte zum Standardvokabular des Landsers und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von Turnlehrern im deutschen Sprachgedächtnis erhalten, die auch an Begriffen wie „Stahl im Bauch“ Gefallen fanden und ihre Schüler auf späteren Handgranatenweitwurf vorbereiteten.

Hey, hey: Wer es von Neujahr bis zum Zeitpunkt der Lektüre dieses Artikels noch nicht zum Joggen, Gewichtestemmen oder sonstigem Sporteln im neuen Jahr gebracht hat, kann sich jetzt erst mal entspannt zurücklehnen: Disziplinierte Kasteiung zu Jahresbeginn ist Nazikram!

Trotzdem ein schlechtes Gewissen? Da wird es dann religiös. Der rheinisch-lebenslustige Manfred Lütz, Chefarzt eines psychiatrischen Krankenhauses sowie gelernter Theologe, geißelte schon vor Jahren in seinem Werk „Lebenslust – Wider die Diätsadisten, den Gesundheitswahn und den Fitnesskult“ die „Gesundheitsreligion“ unserer Tage: „Über Jesus Christus kann man die albernsten Scherze machen, doch bei der Gesundheit, da hört der Spaß auf.“

Ist sie doch das Wichtigste! Und nachdem genau dieser Gemeinplatz zu Anfang des Jahres mit Millionen SMS („Gesundes neues!“) in die Hirne von entweder betrunkenen oder verkaterten Menschen penetriert wurde, marschierte sofort das Heer der Flagellanten los. Eisbader, Jogger in Neoprenanzügen, Bahnenzieher, Liegestützler. Hinzu kommen die Darmspüler, Heilfaster, Abstinenzler und Detox-Fetischisten. Am Anfang des Jahres soll der Mensch um Gottes willen nicht ruhen!

Aber warum denn eigentlich nicht? War das letzte Jahr nicht anstrengend genug?

Anstatt sich mit einem Sprung ins Eiswasser fast umzubringen, wäre eine gepflegte Langzeithypothermie sinnvoller, aber leider nicht möglich. Dieser „Winterschlaf“ für Menschen wird nur bei Notfallpatienten nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand empfohlen. Die Körpertemperatur wird um 5 Grad gesenkt, allerdings höchstens 24 Stunden lang. Dabei wäre der Winterschlaf für Menschen im Zeitraum zwischen Januar (spätestens) und März schlicht genial: Ähnlich der Zeitumstellung würde er helfen, Unmengen von Energie zu sparen – sowohl individuell als auch global. Schließlich ist verbissene Verbrennung von menschlichem Fett im Namen der Gesundheit ein ziemlicher CO2-Produzent, also Klimakiller.

Okay, okay: Stundenlang im Whirlpool herumsitzen auch. Und jetzt steigt auch noch ein Herr dazu, dessen innere Schweinehunde offenbar so viel Auslauf haben, dass das Becken überzulaufen droht. Zeit für eine Dusche.

Aber eiskalt.