Anatolischer Büchersturm

Seit er den Umgang mit der Armenierfrage kritisierte, sieht sich der Schriftsteller Orhan Pamuk in der Türkei einer regelrechten Pressekampagne ausgesetzt. Aus Vorsicht ist er erst einmal abgetaucht

AUS ISTANBULJÜRGEN GOTTSCHLICH

„Orhan Pamuk, ist das einer aus dem Nachbardorf?“ „Vielleicht der Name einer neuen Fernsehserie?“ Den Bewohnern der Kleinstadt Sütcüler in der Provinz Isparta sagte er lange nichts. Erst als ein Reporter der Zeitung Hürriyet sie nach der jüngsten Aktion ihres Landrates Mustafa Altinpinar fragten, wissen sie plötzlich, worum es geht. „Ach ja, die Bücher. Wir kennen zwar Orhan Pamuk nicht, aber wir unterstützen unseren Landrat.“

Kein Wunder, dass die Einwohner dieses Städtchens ziemlich in der Mitte Anatoliens den bekanntesten zeitgenössischen türkischen Schriftsteller bisher nicht kennen: Weder in der Stadtbibliothek noch in den Schulen ließ sich auch nur ein einziges Exemplar des Istanbuler Literaten auftreiben. „Das“, so bekannte denn auch Landrat Mustafa Altinpinar später, „hätte ich natürlich zuvor überprüfen lassen müssen“ – vor einer Anordnung, die ihn schlagartig türkeiweit bekannt machte. „Zur Verteidigung der türkischen Nation vor übler Verleumdung“ hatte er alle öffentlichen Einrichtungen seines Landkreises angewiesen, sämtliche Bücher Orhan Pamuks zu entfernen, ja zu vernichten. Der Mann sei einfach eine Schande: „Unsere Kinder sollten nicht seine Bücher lesen.“

Dabei war es kein Buch, welches den Zorn des Landrates erregt hatte – sondern ein Interview, dass der Schriftsteller weit, weit, weg von Sütcüler dem Zürcher Tagesanzeiger gegeben hatte. Das Zitat des Anstoßes: „Es will ja sonst kaum jemand in der Türkei sagen, deshalb sage ich es jetzt: Es sind 1 Million Armenier und 30.000 Kurden umgebracht worden.“ Mit dieser Äußerung erregte Pamuk nicht nur des Landrats Zorn. Er setzte bei etlichen national gesinnten Medien und Politikern eine erhebliche Erregungskette in Gang. Einer der prominentesten Kolumnisten von Hürriyet, Fatih Altayli, sinnierte öffentlich darüber, gegen Pamuk eine Strafanzeige wegen Verleumdung der Nation zu stellen. Was dann statt seiner ein aufrechter Patriot aus der Provinzstadt Malatya übernahm.

Die Wellen, die Pamuks Äußerungen auslösten, ließen sich mit nationalistischer Rabulistik allein nicht mehr glätten. Zum Druck aus dem Ausland, der jetzt, im Vorfeld des 90. Jahrestages der Armenier-Massaker, wieder besonders stark ist, kommt zudem der wachsende Wunsch vieler Türken, mehr über die eigene Geschichte zu erfahren.

Mit gutem Instinkt für die Bedürfnisse seiner Leser startete deshalb das Massenblatt Hürriyet eine große Serie zur Armenierfrage, in der erstmals auch Kritiker der offiziellen Regierungsposition vor großem Publikum zu Wort kamen. Zwar lehnt auch der renommierte türkische Historiker Halil Berktay den Begriff „Völkermord“ zur Charakterisierung der Vertreibung und Ermordung der Armenier in den Jahren 1915–1917 ab. Dafür machte er das durchschnittliche türkische Publikum wohl erstmals damit vertraut, dass es sehr wohl eine gezielte Politik der „ethnischen Säuberung“ Ostanatoliens von Armeniern gab.

In dieser Woche sah sich nun auch die Politik genötigt, eine neue Debatte über Schuld und Sühne zu eröffnen. Der Europa-Ausschuss des Parlaments lud unter anderem auch zwei der bekanntesten armenischen Publizisten der Türkei zu einer Anhörung über die Armenierfrage ein: Hirant Dink, Chefredakteur der armenischen Wochenzeitung Agos, und Etyen Mahcupyan, Autor und Kolumnist. Beide betonten zwar, die im Ausland betriebene „Völkermord-Kampagne“ abzulehnen. Dafür plädierten sie entschieden für Dialog und Aussöhnung mit Armenien und das Recht, der armenischen Toten und Ermordeten öffentlich zu gedenken: So etwa am 24. April, dem Jahrestag des Beginns der Massaker. Dink verteidigte auch den geschmähten Literaten Orhan Pamuk: „Man sollte die Dokumente über die damaligen Vertreibungen und Massaker erst einmal korrekt lesen.“

Orhan Pamuk selbst ist indes erst einmal abgetaucht, weil er wohl zu Recht um seine Sicherheit fürchtet. Aber auch Landrat Mustafa Altinpinar muss inzwischen um seine berufliche Zukunft bangen. Der zuständige Gouverneur von Isparta, Isa Paslak, will ihn wegen Amtsanmaßung feuern.