Die Zukunft Amerikas

OBAMAS GRUNDSÄTZE In zwei Reden kritisiert der US-Präsident antiimperialistische Opferideologien in Afrika und den USA und befeuert die Bürgerrechtsdebatte

„Niemand hat dein Schicksal vorgezeichnet. Du hast es selbst in der Hand“

BARACK OBAMA

VON SEBASTIAN MOLL

Man hatte schon beinahe vergessen, dass Barack Obama Afroamerikaner ist. Seit seinem Amtsantritt im Januar war Obama vor allem Staatsmann, er peitschte im Eiltempo Gesetze zur Konjunkturbelebung durch den Kongress, verhandelte mit den Spitzen der Autowirtschaft und der Finanzbranche, etablierte sich als Diplomat auf der Weltbühne und wirkte dabei so, als habe er nie etwas anderes getan. Sein historischer Durchbruch, als erster schwarzer US-Amerikaner ins Weiße Haus eingezogen zu sein, geriet dabei beinahe in Vergessenheit. Die Hautfarbe des Präsidenten verschwand aus dem Bewusstsein, seine Qualitäten als Politiker drängten sich in den Vordergrund.

In der vergangenen Woche wurde Obamas Hautfarbe dann aber plötzlich wieder deutlich sichtbar. Da war zunächst sein Staatsbesuch in Ghana, bei dem er nicht vermeiden konnte, als Sohn und gleichzeitig als Stolz des afrikanischen Kontinents empfangen zu werden. Und bei seiner Besichtigung des Camp Coast Castle, der Festung, von der aus die Vorfahren seiner Frau Michelle als Sklaven in die USA verschifft wurden, thematisierte er dies selbstverständlich auch. Dies sei der Ort, an dem die afroamerikanische Erfahrung ihren Ursprung habe, sagte er.

Der kurzen Ansprache auf der Festungsmauer war am Vormittag Obamas Rede an das ghanaische Parlament vorangegangen, die in Wirklichkeit eine Rede für den gesamten Kontinent war. Mit seiner zentralen, recht simplen Botschaft an Afrika hielt der gebürtige Halb-Kenianer Obama dabei nicht lange hinter dem Berg. Nach einführenden Höflichkeiten an die Gastgeber und einer förmlichen Proklamation afrikanisch-amerikanischer Partnerschaft sagte er klar und unmissverständlich: „Die Zukunft Afrikas liegt in der Hand der Afrikaner.“

Damit wollte Obama mitnichten die koloniale Vergangenheit des Kontinents unter den Tisch kehren, sowie die Tatsache, dass sie die Wurzel für viele Übel ist, die Afrika plagen: „Sicher, eine koloniale Karte, die keinen Sinn macht, hat dazu beigetragen, Konflikte zu säen. Der Westen ist oft Afrika als Herrscher entgegengetreten oder hat Afrika einfach nur als Quelle von Rohstoffen missbraucht. Aber der Westen ist nicht für die Zerstörung der Wirtschaft von Simbabwe verantwortlich und nicht dafür, dass Kinder als Soldaten in Kriege geschickt werden. Die Welt wird das sein, was ihr daraus macht“, schloss er seine Ansprache, nicht jedoch ohne wenigstens ein ermunterndes „Yes You Can“ hinterherzuschicken.

Unruhe im schwarzen Amerika

Nur wenige Tage danach hielt Obama in New York, ziemlich genau 14 Monate nach seiner allseits bejubelten Rede in Philadelphia, seine zweite Grundsatzansprache zum Thema der Minderheiten in den USA. Anlass war das 100. Jubiläum der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), der ältesten und mächtigsten Bürgerrechtsorganisation in den USA. Die Botschaft hier war keine andere als die, die er vorher an die Nationen Afrikas gerichtet hatte. Wie die Afrikaner haben laut Obama die Schwarzen Amerikas aufgrund vergangenen Unrechts unbestrittenermaßen einen historischen Nachteil. Diesen Nachteil wird jedoch niemand für sie aus schlechtem Gewissen wettmachen. Sie müssen schon ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen. Yes You Can.

Noch während seines Wahlkampfs war Obama auf Distanz zur NAACP bedacht: Zu viel Nähe hätte ihn als traditionellen „schwarzen Kandidaten“ gebrandmarkt, ein Stigma, das die Obama-Kampagne unter allen Umständen zu vermeiden suchte. Der Grund, der Obama dazu bewogen hat, sich genau jetzt wieder in die Debatte um Herkunft und Diskriminierung einzuklinken, ist indes eine spürbare Unruhe, die sich nach dem ersten halben Jahr seiner Amtszeit im schwarzen Amerika breitmacht.

Während der Wahl 2008 sagten 38 Prozent der Afroamerikaner, dass sie die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß im Land für ein gravierendes Problem hielten. In einer Umfrage im Juni 2009 hielten 55 Prozent dieses Verhältnis für schwierig. Der schwarze Justizminister Eric Holder war seinem Präsidenten schon im Februar in den Rücken gefallen, indem er dessen Gleichheitsutopie ein äußerst trübes Bild des aktuellen Amerikas entgegenstellte. Die USA seien ein Land von Feiglingen, das sich vor einer echten Auseinandersetzungen mit seinem Rassismus drücke und stattdessen in einer „freiwilligen Apartheid“ verharre.

Es war also eine wachsende Ernüchterung, die Obama dazu bewog, sich in den vergangenen Wochen geballt zum Thema zu Wort zu melden. Seine Botschaft diente allerdings nicht eben dazu, die Unzufriedenen und Ungeduldigen in der schwarzen Community zu beschwichtigen. Es war die uramerikanische Botschaft des Glaubens an die Kraft des Individuums, sich aus seinen Umständen zu befreien und neu zu erschaffen, jene Ideologie der „Self Reliance“, für deren Gültigkeit Obama immer wieder seine eigene Biografie ins Feld führt.

Zunächst einmal dämpfte Obama in New York die Erwartungen einer postrassistischen Utopie in den USA. Diskriminierung und Vorurteile seien unverändert eine Realität, auch wenn es auf diesem Gebiet große Fortschritte zu verzeichnen gebe. Das größere Hindernis für wahrhafte Gleichberechtigung, so Obama, seien jedoch die strukturellen Ungleichheiten, die Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte der Diskriminierung hinterlassen hätten.

Aus dieser Hinterlassenschaft könnten die nationalen Minderheiten sich jedoch nur selbst befreien, so wie auch der afrikanische Kontinent nur selbst seine Zukunft in der Hand habe. Die Tatsache, dass Armut und Arbeitslosigkeit, Teenager-Schwangerschaften, Drogenabhängigkeit und Kriminalität in schwarzen Communitys ungebrochen überproportional hoch seien, habe sicher ihre Ursachen in den Ungerechtigkeiten der Vergangenheit. Man dürfe jedoch nicht darauf warten, dass irgendjemand komme und die Afroamerikaner aus ihrem Übel erlöse. Das müssten sie selbst tun.

Schon in seiner Rede zum Thema im vergangenen Jahr in Philadelphia hatte Obama gesagt, das schwarze Amerika müsse volle Gleichberechtigung fordern, aber gleichzeitig volle Verantwortung für seine Zukunft übernehmen. Vor der NAACP wurde er jetzt noch deutlicher: „Das destruktivste Erbe der Diskriminierung ist die Art, wie wir ein Bewusstsein unserer Begrenzung internalisiert haben; wie so viele in unserer Gemeinschaft so wenig von sich selbst erwarten. Sicher, wenn du in einer armen Gegend aufwächst, musst du größere Hürden überwinden, als wenn du in einem reichen Vorort aufwächst. Aber es ist kein Grund, schlechte Noten zu bekommen, es ist kein Grund, die Schule zu schwänzen oder sie ganz abzubrechen. Niemand hat dein Schicksal vorgezeichnet, du hast es selbst in der Hand.“

Die Rede formulierte Obamas Position in der Frage der Gleichberechtigung deutlich. Er berief sich explizit auf den Mitbegründer der NAACP W.E.B. DuBois, einen schwarzen Pädagogen, der wie Obama daran glaubte, für Minderheiten innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft vollständige Gleichberechtigung zu schaffen und eine Teilhabe am American Dream zu ermöglichen, anstatt sich anklagend gegen sie zu stellen.

Was sich für Obama 100 Jahre nach DuBois jedoch verschoben hat, ist, dass mittlerweile das Haupthindernis für das Fortkommen der Schwarzen in den USA sie selbst sind, ihre internalisierte Opferhaltung.

Provozierte Bürgerrechtler

Diese Ansicht provoziert freilich die alte Garde der Bürgerrechtsbewegung. Männern aus der Martin-Luther-King-Generation wie Jesse Jackson fällt es schwer, die Verantwortung für die Situation der Schwarzen nicht mehr der weißen Mehrheit zuzuschieben und zu glauben, dass die Schranken mittlerweile vorwiegend im eigenen Kopf säßen. Deshalb rutschte es Jackson auch vor laufenden Kameras heraus, er wolle Obama „die Eier abschneiden“, nachdem dieser am Vatertag 2008 afroamerikanische Männer dazu ermahnt hatte, verantwortungsvollere Familienväter zu sein.

Jackson empfand es als hochmütig von Obama, als jemand, der nicht von Sklaven abstammt, schwarze Männer zu belehren. Aber es ist nicht nur die Frage, ob Obama „schwarz genug“ ist, um sich zum Sprecher der Black Americans aufzuschwingen, die den zornigen alten Männern der Bürgerrechtsbewegung Unbehagen bereitet.

Es ist auch die Frage, ob Obamas Botschaft, man müsse sich nur selbst aus seinem Sumpf ziehen, letztlich konservativ sei. „Das einzig Radikale an Obama“, hat der schwarze Intellektuelle Henry Louis Gates gesagt, „ist seine Hautfarbe.“ Obama hält dem entgegen, dass die Veränderungen, die jetzt anstehen, vielleicht nicht so dramatisch sind wie die Befreiungskämpfe des vergangenen Jahrhunderts, aber letztlich bedeutsamer. Und vor allem, dass Zorn kein Vehikel des Wandels mehr ist. Im Gegenteil – im 21. Jahrhundert ist er ein Garant des Stillstands.