: Jugendliche von gestern
Wenn Strukturen aufbrechen. Ein gesellschaftskritisches Dramolett zum Nachdenken
Ort und Zeit: Bauzaun an einem Kleinstadtrand, Bundesrepublik Deutschland, 1979. Personen: Kim (16), Gesellschaftskritikerin, und Tim (17), Gesellschaftskritiker.
(Baustellenscheppern, Lastergebrumm, Bauarbeiterrufe)
Kim: Echt, jetzt bauense hier noch so ’ne Scheißfabrik hin, statt ma endlich was fürs Jugendzentrum zu tun.
Tim: Klar, is ja auch nich in denen ihrem Sinn, wenn wir Jugendliche was haben, wo wir uns konkret politisch engagieren können und … und … und uns solidarisieren können mit El Salvador oder so. Da klotzense lieber die nächste Chemiefabrik in die Landschaft.
Kim: Dabei hab ich gelesen, dass hier total seltene Kräuter wachsen.
Tim: Das ist für die doch nur Unkraut. Wenn die Indianer so mit ihrer Umwelt umgegangen wären, hätten die nie ihre heiligen Rituale mit psychedelischen Pilzen entwickeln können.
Kim: Deshalb soll man ja auch Wildkraut und nicht Unkraut sagen, einfach aus Respekt vor der Pflanzenwelt … ey, kuck ma, was die da hinten machen … die schütten da ’n Fass aus … voll auf die Wiese …
Tim: Das ist garantiert lauter Chemie.
Kim: Voll der Wahnsinn! Das müssen wir der Polizei melden, ey, wenn die hier ihren Giftmüll auskippen!
Tim: Bis die Polizei kommt, haben die doch alles schon vertuscht. Und dann ruft der Boss von der Firma eben mal beim Polizeichef an, und die kungeln irgendwas aus, und am Ende kriegen wir selbst noch ’ne Anzeige wegen Hausfriedensbruch oder so. Die Bullen stecken doch mit denen unter einer Decke.
Kim: Dann müssen wir eben selbst was machen!
Tim: Aber was denn? Etwa da reinmarschieren und uns anlegen mit den Typen?
Kim: Nee, aber wir könnten doch ’ne Bodenprobe nehmen von der Stelle, wo die ihren Giftmüll hingeschüttet haben, und dann lassen wir die Probe analysieren.
Tim: Da steht aber, dass das Betreten der Baustelle verboten ist und dass Eltern für ihre Kinder haften. Meine Eltern will ich da irgendwie nicht mit reinziehen. Ich hab mich innerlich jetzt schon so ’n gutes Stück weit freigemacht von den ganzen patriarchalischen Strukturen in meiner Familie, und wenn da nachher so ’n Jugendrichter ankommt und meine Eltern haftbar macht für mich, dann steck ich wieder drin in dieser Psychokiste …
Kim: Dann geh ich halt alleine rein. Das sind doch genau die Typen da, die die Erde nur von uns geliehen haben! Und du sagt doch selbst immer: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht!
Tim: Ja, schon, wenn du ’ne politisch bewusste Masse hinter dir hast, aber doch nicht so holterdipolter auf eigene Faust! Das ist doch gerade der alte Irrtum der Anarchisten, dass die geglaubt haben, ohne politische Basisarbeit auskommen zu können. Das ist der reine Aktionismus, vor dem schon Lenin gewarnt hat.
Kim: Ich seh die Welt ja mehr durch die Augen von Rosa Luxemburg. Die ist für ihre Überzeugungen in den Knast gegangen. Und ich wette, die hätte hier auch nicht lange am Zaun gestanden heute, sondern die wär reingegangen und hätte sich ’ne Bodenprobe geholt … oder warte mal … ich weiß was Besseres … die machen doch gerade alle Frühstückspause … da könnten wir uns doch zu dem Lkw mit den leeren Fässern da vorne schleichen und als blinde Passagiere mitfahren, um rauszufinden, zu wem die die Giftmüllfässer zurückbringen. Das hier sind ja nur die kleinen Fische. Ich würde lieber gleich den großen Bossen das Handwerk legen!
Tim: Wie stellst’n du dir das vor? Wenn die uns erwischen, sind wir doch am Arsch. Die machen uns doch platt wie zwei Wanzen, und ’n halbes Jahr später macht irgendso ’n Spaziergänger im Grüngürtel von Rotterdam einen grausigen Fund, und der Fund sind wir. Und was hätten wir dann politisch damit bewirkt?
Kim: Willst du mit mir schlafen?
Tim: Was?
Kim: Ob du mit mir schlafen willst.
Tim: Was … wie kommst’n du jetzt ausgerechnet auf so was? Was hat ’n das mit unserer politischen Diskussion zu tun?
Kim: Wenn du mitkommst auf den Lkw und wir die Sache überleben, darfst du mit mir schlafen.
(Schweigen.)
Kim: Also was jetzt?
(Schweigen.)
Kim: Die machen nicht ewig Frühstückspause. Wenn du nicht bald was sagst, geh ich alleine.
Tim (räuspert sich, dann): Für mich hat das was Erpresserisches.
Kim: Was soll denn daran erpresserisch sein, wenn wir die Giftmüllmafia erledigen und danach zusammen schlafen?
Tim: Nein, ich meine, wenn du … irgendwo vermischst du da zwei Ebenen.
Kim: Was? Da vorne haben eben zwei Typen illegal Giftmüll entsorgt, und du bist voll am Motzen darüber, dass ich zwei Ebenen verwische? Sei doch mal solidarisch!
Tim: Vermische.
Kim: Was?
Tim: Du hast gesagt, ich hätte gesagt, dass du zwei Ebenen verwischst, aber ich habe vermischst gesagt. Nicht verwischst.
Kim: Ist doch egal, was du gesagt hast! Hier geht’s um einen umweltpolitischen Skandal, den wir aufdecken können!
Tim: Wenn dir egal ist, was ich sage, wüsste ich ja gerne mal, weshalb du mit mir ins Bett willst.
Kim: Will ich ja gar nicht! Ich will zu dem Lkw!
Tim: Aber du hast doch vorhin gesagt, dass du mit mir schlafen willst.
Kim: Quatsch … ich hab gesagt, dass du mit mir schlafen darfst, wenn du jetzt endlich mitkommst.
Tim: Und du selbst?
Kim: Was du selbst?
Tim: Ob du selbst mit mir schlafen willst.
Kim: Meinst du „selbst mit mir“ jetzt im Sinne von „sogar mit einem wie mir“, oder willst du wissen, ob ich selbst darauf scharf bin, mit dir ins Bett zu gehen?
Tim: Moment mal … ich hab dir ’ne klare Frage gestellt, aber statt ’ner klaren Antwort kommt nur unheimlich viel Aggressivität von dir zurück, das muss ich erst mal verarbeiten.
Kim: Hast du überhaupt schon mal geschlafen mit ’ner Frau?
Tim: Was soll denn das jetzt wieder? Ich denk, ich denk, ich denk, du willst dich auf den Lkw da stürzen, weil du dich für so ’ne zweite Art Rosa Luxemburg hältst, und jetzt willst du … und jetzt soll ich auf einmal …
Kim: Reg dich doch nicht so auf! Ist doch nicht schlimm, wenn man sexuell noch unerfahren ist.
Tim: Also echt … du drehst einem ständig das Wort im Mund rum. Wer hat denn gesagt, dass ich sexuell noch unerfahren bin?
Kim: Keiner, aber als Frau hat man halt ’nen sechsten Sinn für solche Sachen.
Tim: Für was für Sachen?
Kim: Ob ein Typ schon mal was gehabt hat mit ’ner Frau oder nicht.
Tim: Und deinem sechsten Sinn vertraust du also mehr als mir?
Kim: Mensch, überleg doch mal … wem können Frauen schon vertrauen nach viertausend Jahren Patriarchat? Du hast doch selbst gesagt, dass du aus den patriarchalischen Strukturen rauswillst.
Tim: Ja, aber ich will auch nicht auf die bloße Negation raus. Mein persönliches Ideal wäre eine transparente Struktur zwischen den Geschlechtern und auch den Generationen, also eine Einebnung der Hierarchien, die aber erst erfolgen kann, wenn wir der kapitalistischen Megamaschine, die den Blauen Planeten zerstört, so viel Sand ins Getriebe gestreut haben, dass sie zum Erliegen kommt und gewaltfrei von einer basisdemokratisch organisierten Gesellschaftsform abgelöst wird. Du solltest mal lesen, was der DDR-Dissident Rudolf Bahro dazu geschrieben hat …
Kim: Scheiße, da kommen sie! Aus der Traum. Jetzt zischense mit ihren Giftmüllfässern ab, und wir haben wieder nur gelabert.
Tim: Labern würde ich das nicht nennen, wenn man sich gemeinsam diskursiv in politische Komplexe einarbeitet. So entsteht ja auch erst Solidarität untereinander. Denk doch mal an das Lied: Allein machen sie dich ein, machen sie dich klein …
Kim: Ich glaub, ich geh dann mal. Muss noch Bio machen.
Tim: Äh – sehen wir uns morgen Abend im „Juzi“?
Kim: Nö … kann nicht … hab schon was vor.
Tim: Was denn?
Kim: Irgendwas halt. Tschüss.
Tim: Ja, tschüss dann …
(Pause.)
Tim (schreiend vor Glück): Sie will mit mir ins Bett! Sie will mit mir ins Bett!
AUFGEZEICHNET VON GERHARD HENSCHEL