kranke berliner: Der Krankenstand zeigt nicht alles
Auf den ersten Blick ist es erfreulich: Immer weniger Berliner sind krank, zumindest lassen sie sich seltener krankschreiben. Zwar ist der Berliner Krankenstand im Bundesvergleich noch der höchste, aber die Tendenz zeigt seit Jahren eindeutig nach unten. Das spart Geld: Unternehmen und Verwaltungen müssen weniger für ihre kranken Beschäftigten zahlen, und die Ausgaben der Krankenkassen gehen zurück. Beitragssenkungen könnten – endlich – die Folge sein.
KOMMENTARVON RICHARD ROTHER
Leider drücken solche Zahlen nur die halbe Wahrheit aus. Dass jemand krank zur Arbeit geht – wenn er noch welche hat – solche Beispiele dürfte jeder in seinem Bekanntenkreis finden. Wer aber Krankheiten und Leiden verschleppt, verschlimmert sie oft. Am Ende wird das gesamtgesellschaftlich auch nicht billiger – auch wenn das überteuerte Gesundheitssystem sinnvollerweise ein paar Bagatellfälle weniger behandelt.
Diese Betrachtung kann dem einzelnen Unternehmer herzlich egal sein. Nicht selten werden Beschäftigte, wenn sie ausgelaugt und krank sind, nach Möglichkeit einfach entlassen. Dass sogar immer mehr Schwangere und Beschäftigte, die eine Elternzeit nehmen, in Berlin aus dem Job gedrängt werden, zeigt, wie inhuman die Arbeitswelt geworden ist. Das ist die Kehrseite des geringer gewordenen Krankenstandes: Nur die Gesündesten und Fittesten haben dauerhaft überhaupt noch Chancen auf Job und Einkommen.
Die Zunahme psychischer Erkrankungen scheint diesen Trend zu bestätigen. Auch wenn der Gang zur Therapie heute leichter fällt als früher – viele Menschen kommen einfach mit dem Stress im Job nicht klar. Und immer seltener ist es für Erwerbstätige möglich, im Beruf auch mal eine Zeit lang einen Gang zurückzuschalten, wenn sie psychische oder familiäre Probleme haben. Für die dringend benötigte Auszeit bleibt dann nur noch der Gang zum Psychologen. Wenigstens die können sich über mehr Kundschaft freuen.
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