: Hauptstadt der Depression
Beschäftigte melden sich seltener krank, die Zahl psychischer Erkrankungen aber stieg innerhalb von acht Jahren um 70 Prozent. Angst um den Job und Mobbing verstärken die psychischen Probleme
VON RICHARD ROTHER
Berlin macht depressiv. Die Zahl psychischer Erkrankungen ist in der Stadt in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Das geht aus einer Untersuchung der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) hervor, die gestern vorgestellt wurde. Die Kasse hat die Krankschreibungen von über 90.000 erwerbstätigen Mitgliedern in Berlin ausgewertet; die Daten von Arbeitslosen wurden allerdings nicht berücksichtigt. Insgesamt sinkt der Krankenstand in Berlin. Gegen den Trend sind psychische Erkrankungen aber angestiegen – seit 1997 um fast 70 Prozent. Die Zahl der Betroffenen stieg im gleichen Zeitraum um 52 Prozent. Psychische Erkrankungen sind mit 12,1 Prozent mittlerweile die vierthäufigste Ursache für Arbeitsausfälle. Darüber liegen nur noch Verletzungen, Erkrankungen des Atmungs- sowie des Muskel-Skelett-Systems.
Berlin hat von allen Bundesländern die größte Zahl von Fehltagen wegen psychischer Krankheiten: Auf 100 DAK-Mitglieder kommen hier im Jahr durchschnittlich 180 Fehltage, im Bundesschnitt nur 110. Nur die Stadtstaaten Hamburg und Bremen haben ähnlich hohe Werte, in Ostdeutschland spielen psychische Erkrankungen – trotz eines insgesamt überdurchschnittlich hohen Krankenstandes – eine untergeordnete Rolle.
Das scheint eine These zu bestätigen: Die Zahl psychischer Erkrankungen hängt auch von ihrer Akzeptanz in der Bevölkerung und dem therapeutischen Angebot ab. Anders gesagt: Je offener Menschen zu ihren psychischen Problemen stehen und je mehr Psychologen oder Psychoanalytiker es gibt, umso mehr Menschen werden sich umso intensiver in eine entsprechende Therapie begeben. Mittlerweile sind rund 70 Prozent der Bundesbürger grundsätzlich bereit, sich bei psychischen Problemen professionellen Rat zu holen, hat eine DAK-Umfrage ergeben. Und in liberalen und anonymen Großstädten fällt der Gang zum Therapeuten leichter.
Wichtige Ursachen sind aber auch in der Arbeitswelt zu finden, darin sind sich die Gesundheitsexperten einig. Oft ist der Stress im Job aber nicht unbedingt die Ursache für psychische Probleme, er dürfte sie aber in jedem Fall verstärken. Dass der gestiegene Leistungsdruck, Versagensängste und mögliche Überforderungen im Beruf nicht gerade das psychische Wohlbefinden stärken, dürfte unumstritten sein. Kommen die Angst um den Job oder Mobbing hinzu, können sich psychische Probleme auswachsen. Erschwerend ist, dass sich die Arbeit immer weiter ins Privatleben ausdehnt – die wichtigen Phasen von abschalten und entspannen werden kürzer.
Manchmal sind Beschäftigte aber auch lieber über längere Zeit psychisch krank und weiter angestellt als gesund und arbeitslos. Auf solche Fälle aus der Praxis weist der Depressionsexperte der Charité, Burghard Klopp, hin. „Wie soll jemand gesund werden, wenn er weiß, dass sein Chef nur darauf wartet, um ihn entlassen zu können?“
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