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Archiv-Artikel

Gute Zeiten für Großverdiener in Estland

Mitte-links-Koalition mit Premier Ansip tritt an. Wie gehen Steuersenkungspolitik und Rentenerhöhung zusammen?

Mit den „extrem hohen sozialen Kosten“, die der Umbau hin zu einer liberalen Marktwirtschaft und die EU-Anpassung mit sich gebracht habe, bestritt Edgar Savisaar vor zwei Jahren den Parlamentswahlkampf für seine linkspopulistische Zentrumspartei in Estland. Und damit, wie er gedenke, die wachsende soziale Unruhe zu dämpfen und die tiefen Wohlstandsgräben zuzuschütten. Dieses sollte vor allem mit einer Progression des bei 24 Prozent liegenden festen Einkommenssteuersatzes geschehen. Großverdiener sollten unter einer Regierung Savisaar mit bis zu 33 Prozent zur Kasse gebeten werden, während man Niedrigverdiener mit 16 Prozent deutlich entlasten wollte. Die staatlichen Mehreinnahmen sollten primär in das Sozialsystem fließen.

Solche Versprechungen machten das Zentrum zur stärksten Partei. Die wurde jedoch von einer Mitte-rechts-Koalition in die Opposition verbannt. Nach deren Scheitern pünktlich zur Halbzeit der Legislaturperiode darf Savisaar nun doch noch ran: Als Wirtschaftsminister in einer Koalition mit der bäuerlichen Volksunion und geführt von der Reformpartei des gestern vom Parlament gewählten Ministerpräsidenten Andrus Ansip.

Ansip ist der zwölfte Regierungschef in 13 Jahren und politisch ein relativ unbeschriebenes Blatt. Der Diplomchemiker und Ökonom war Bürgermeister von Estlands zweitgrößter Stadt Tartu und im letzten Regierungskabinett einige Monate Transport- und Wirtschaftsminister. Die Klientel seiner Reformpartei, drittstärkste bei den letzten Wahlen, kommt aus dem Wirtschafts- und Finanzsektor des Landes. Dieser darf sich nun berechtigte Hoffnungen auf eine Fortsetzung des ausgeprägt wirtschaftsfreundlichen Kurses machen, den schon die letzte Mitte-rechts-Koalition gefahren hatte.

Savisaar – ein im Gefolge von Skandalen schon mehrfach, aber immer voreilig ausgezähltes politisches Stehaufmännchen – und seine Zentrumspartei haben als Preis für eine Regierungsbeteiligung nämlich ihre steuerpolitischen Vorstellungen kurzerhand zu „langfristigen Zielen“ umetikettiert. Im genauen Gegensatz dazu will man nun eine Steuersenkungspolitik mittragen. Diese verspricht nicht nur die sozialen Gräben zu vertiefen, sondern die ohnehin angespannten öffentlichen Finanzen weiter zu verschlechtern – zumal man diese mit einer deutlichen Rentenerhöhung belasten will.

Zentrum und Reformpartei treffen sich auf der Basis einer Koalition wieder, die sie zeitweise schon vor den Wahlen von 2003 unter dem jetzigen EU-Kommissar Siim Kallas geführt hatten. Nur eine knappe Mehrheit von 52 der 101 Parlamentssitze hat die Regierung. Doch versprachen sich Ansip und Savisaar, bis zu den Wahlen 2007 durchhalten zu wollen. Das legten Medienkommentare dahingehend aus, dass nun eine innenpolitische Periode ohne allzu viele Kontroversen und neue Reformansätze zu erwarten sei und Regierungs- wie Oppositionsparteien vor allem ihre Positionen mit Blick auf die Wahlen festigen wollten. Zudem dürfte es auch darum gehen, wer sich am ehesten Hoffnung auf das Erbe von „Res Publica“ machen kann. Diese rechtspopulistische Partei des gescheiterten Premiers Juhan Parts war ebenso schnell in der Versenkung verschwunden, wie sie raketenartig aufgestiegen war und 2003 mehr als ein Fünftel der WählerInnen gewonnen hatte. REINHARD WOLFF