„Die Erde ist erfreulicherweise erstaunlich robust“

KLIMAPOLITIK Der Physiker und Politiker Ernst Ulrich von Weizsäcker über Wahrheit und Wählerwillen, Klima- und Finanzkrise, Angela Merkel und Barack Obama

■ Familie: Geboren am 25. Juni 1939 in Zürich. Er ist der Sohn des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker und Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.

■ Politik: Seit 1966 ist er Mitglied der SPD. Er gehörte lange dem SPD-Landesvorstand von Baden-Württemberg an, von 1998 bis 2005 war er Mitglied des Deutschen Bundestages.

■ Naturwissenschaft: Der Physiker und Biologe war u. a. Präsident der Universität Kassel, Direktor des UNO-Zentrums für Wissenschaft und Technologie in New York und Dekan der Bren School of Environmental Science & Management, University of California.

INTERVIEW MALTE KREUTZFELDT
UND MONIKA SCHMIDTKE

taz: Herr von Weizsäcker, in Ihrer Familie gibt es große Politiker wie Ihren Onkel Richard ebenso wie große Naturwissenschaftler, etwa Ihren Vater Carl Friedrich. Sie selbst verbinden beides – fühlen Sie sich eher als Wissenschaftler oder als Politiker?

Ernst Ulrich von Weizsäcker: Ich habe mich nie vernünftig entscheiden können – und deshalb auch ständig zwischen den beiden Welten gewechselt. Die Politik ist eine Erfahrungswelt, die man an der Universität nicht lernt. Ich würde jedem Wissenschaftler, der dazu die Chance hat, raten, sie zu nutzen. Die Gesellschaft kann das brauchen.

Aber riskiert man dann nicht den Vorwurf, wegen parteipolitischer Interessen die wissenschaftliche Unabhängigkeit aufzugeben?

Struck, Müntefering oder Schröder haben mich nie gezwungen, gegen meine wissenschaftliche Erkenntnis zu arbeiten. Wenn Fraktionszwang war, hieß es zwar, deine Stimme gehört hierhin. Aber zum einen hatte ich immer die Gelegenheit, das vorher in der Fraktion zu diskutieren. Zum anderen waren das keine Entscheidungen, die an meine wissenschaftliche Ehre gingen.

Frustrierend, wenn die Politik etwa beim Klimaschutz beharrlich die Warnungen der Wissenschaft ignoriert.

Mindestens genauso frustrierend finde ich das fehlende Verständnis vieler Akademiker für die Zwänge der Politik. Ich habe aus der Warte des Politikers erlebt, wie Wissenschaftler bei Anhörungen vom Katheder herunter die reine Lehre verkünden. Sie unternehmen geringe Anstrengung zu verstehen, wie das Volk denkt, das die Politiker gewählt hat – und finden dann nachher, die Politik sei schmutzig und korrupt, wenn sie nicht ihrer reinen akademischen Lehre folgt.

Sie haben also Verständnis für die Kompromissbereitschaft der Politik?

Ich habe Verständnis dafür, dass die Politik dem Volk zuhören muss. Und ich habe auch Verständnis für die Wissenschaft, die findet, man muss eine Frage mit Ja oder Nein beantworten. Beides hat seine Tugend.

Warum hat die Politik so viel Angst, den Menschen unangenehme Wahrheiten zu vermitteln?

Das ist ganz einfach: Das Volk will Arbeitsplätze. Und diejenigen, die Arbeitsplätze bieten, drohen ja ganz offen: Wenn ihr hier eine stramme Klimapolitik macht, verlagern wir die Arbeitsplätze in andere Länder, die weniger streng sind. Da stehen wir alle unter wahnsinnigem Druck. Denn in der Bevölkerung sind die Prioritäten klar: lieber Arbeitsplätze und etwas mehr globale Erwärmung als keine Arbeitsplätze und ein ungewisses Zückerchen fürs Klima.

Sie waren zur Zeit der rot-grünen Regierung im Bundestag. Schon damals waren Umweltschützer von vielen Entscheidungen enttäuscht. Aber wenn man sich nun die Bilanz der großen Koalition anschaut, scheinen diese Zeiten geradezu paradiesisch. Sind Sie froh, dass Sie mit der momentanen Politik nichts mehr zu tun haben?

Nein, ich sehe die große Koalition nicht so negativ. Wohl keine andere Regierung irgendwo in Europa hat beim Klimaschutz so entschlossen agiert. Frau Merkel und Herr Gabriel haben einiges wirklich gut gemacht und sicher nicht schlechter als die Partnerländer.

Aber von den Dingen, zu denen Sie geforscht haben, etwa die Effizienzrevolution und die Ökosteuer, ist nicht viel geblieben. Von der Ökosteuer redet kein Mensch mehr, das Effizienzgesetz ist gestoppt worden, und Ihr Parteifreund Sigmar Gabriel baut als Umweltminister Kohlekraftwerke.

Sicher ist die Politik nicht so, wie sie sein sollte. Aber das dem Umweltminister vorzuwerfen, finde ich falsch. Es ist doch nicht er selbst, der die Kohlekraftwerke baut.

Aber Sigmar Gabriel verhindert es auch nicht.

Das kann er angesichts der politischen Kräfteverhältnisse gar nicht. Er hat ja versucht, den Neubau von Kraftwerken wenigstens an die Entsorgung des CO2 zu binden – und ist damit sogar innerparteilich gescheitert.

Auf wen setzen Sie denn in Deutschland beim Klimaschutz in den nächsten Jahren die größten Hoffnungen?

Vielleicht auf eine Koalition, bei welcher SPD und Grüne am gleichen Strang ziehen.

Sie haben lange in den Vereinigten Staaten gelebt, zuletzt als Wissenschaftler in Kalifornien. Wie läuft die Klimadebatte dort im Vergleich zu Deutschland?

In den letzten drei Jahren unter Präsident George W. Bush habe ich gesehen, was wirklich schlimme Umweltpolitik ist. Da wollte die zentrale Umweltbehörde ja sogar den einzelnen Staaten verbieten, CO2 als Schadstoff zu behandeln und den Bau von Kraftwerken einzuschränken. Absurd.

Wie hat die Wissenschaft in den USA auf diese Umweltpolitik reagiert?

Wissenschaftler, denen die Wahrheit oder die Umwelt am Herzen lag, hatten seit 1981 unter Ronald Reagan nichts zu lachen. Die sind ausgegrenzt worden bis zum Letzten. Waren sie Staatsangestellte, haben sie richtige Redeverbote gehabt. Nur diejenigen, die mit Bush und anderen Wölfen geheult, also den Klimawandel geleugnet haben, denen ging es gut. Alle anderen haben unglaublich gelitten. Das Ausmaß der Verzweiflung guter Wissenschaftler unter der Republikanerherrschaft kann man sich in Deutschland kaum vorstellen.

Und wie ist die Stimmung, seit Obama an der Macht ist?

Die amerikanische Scientific Community hat praktisch geschlossen für ihn gestimmt. Und nun schwingt das Pendel politisch in die andere Richtung. Obama hat ein großartiges Team in Sachen Klima, Energie und Umwelt aufgestellt.

Die Durchlässigkeit zwischen Politik und Wissenschaft scheint in den USA jetzt groß zu sein: Mit Steven Chu aus Berkeley ist ein Physik-Nobelpreisträger zum Energieminister geworden.

Obama stand natürlich unter einem großen Druck, den seit 25, 30 Jahren frustrierten Wissenschaftlern die Hand zu reichen und zu sagen: Jetzt nehme ich die Besten von euch in mein Team auf. Das war fast schon zwangsläufig – und ich finde das großartig.

Aber hat das auch Konsequenzen? Die erste Begeisterung über Obamas Klimapolitik ist ja angesichts der unzureichenden Gesetze schon vorbei.

Völlig klar. Das habe ich auch nicht anders erwartet. Die USA werden schließlich nicht vom Präsidenten beherrscht, sondern vom Kongress.

Da haben die Demokraten doch auch die Mehrheit!

Aber dazu gehören Kohle-Demokraten, Auto-Demokraten und Öl-Demokraten. Die demokratische Fraktion im Kongress ist kein Klimaverein. Als Obama im Haushalt 80 Milliarden Einnahmen aus CO2-Zertifikaten als Einnahmen eingeplant hat, haben die gemerkt, wie teuer das wird. Im Waxman-Markey-Gesetzentwurf sind noch etwa 15 Milliarden übrig geblieben. Man kann nicht erwarten, dass Obama das Land schlagartig umkrempeln kann.

Bei uns hat es fast 20 Jahre gedauert, bis die gesicherten Erkenntnisse über den Klimawandel politische Konsequenzen hatten. Können sich die USA nochmal so viel Zeit lassen, oder ist es dann nicht längst zu spät?

Es wird quälend langsam gehen. In den USA, in China, auf der ganzen Welt. Aber zum Glück wird jetzt auf den Klimakonferenzen auch über die notwendige Anpassung an den Klimawandel geredet. Das hat den Vorteil, dass man merkt, wie teuer das wird – und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. Das ist wahrscheinlich die psychologische Voraussetzung dafür, dass auch die Vorsorge etwas beschleunigt wird.

Ein weiteres Problem fürs Klima ist, dass das Thema derzeit durch die Wirtschaftskrise verdrängt wird. Ist das auch in den USA so?

Ja, das ist wohl in allen Ländern der Welt so. Mit einer Ausnahme, nämlich Südkorea. Bei deren Konjunkturpaket sind 80 Prozent der Ausgaben ökologisch sinnvoll. In Deutschland sind es gerade mal 15 Prozent.

Wie ließen sich denn die beiden Krisen produktiv zusammenbringen?

Dafür wäre eine bessere Analyse über die Ursachen notwendig. Schließlich gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Finanz- und der Umweltkrise. In den USA ist zum einen das Häusermeer immer größer geworden: Jeder baute sich ein Häuschen in einem Vorort. Dadurch haben sich die durchschnittlichen Pendel-Entfernungen zur Arbeit mehr als verdoppelt. Zum anderen sind die Autos immer größer geworden. Und als dann wegen steigender Nachfrage aus China und anderswo die Ölpreise gestiegen sind, konnten sich plötzlich hunderttausende Amerikaner das Pendeln nicht mehr leisten. Plötzlich verloren die Häuser massiv an Wert.

Mit den bekannten Konsequenzen.

Genau. Weil die neuen Häuser mit hohen Schulden belastet waren, kamen die Besitzer schnell in Zahlungsschwierigkeiten. Und darum waren viele Hypotheken auf einmal nichts mehr wert, die Hypothekenbanken sind zusammengekracht, und dann haben alle anderen Probleme gekriegt, die Hypothekendarlehen gekauft oder versichert hatten.

Was folgt daraus?

Wer jetzt glaubt, das Problem allein mit Bankenregulierung lösen zu können, irrt. Schließlich stand am Anfang die amerikanische Politik von Zersiedlung, großen Autos und billigem Öl – unter den Republikanern und auch unter Clinton. Solange das nicht anerkannt wird, bleibt ein Frontalkonflikt zwischen denen, die die Wirtschaftskrise lösen wollen, und denen, die das Klima retten wollen.

Und wie ließe sich dieser Widerspruch auflösen?

Beides muss kombiniert werden. Ein neuer Wachstumszyklus darf überhaupt nur noch entstehen, wenn er umweltverträglich ist. Dann stellt man die richtige Frage: Was müssen wir politisch tun, damit frisches Investorengeld nicht mehr in die technologische Vergangenheit, sondern in die Zukunft investiert wird?

Ihre Partei, die SPD, hat als Antwort die Abwrackprämie gefunden.

 Agitation: Ernst Ulrich von Weizsäcker gehört zusammen mit Michael Ballhaus (Director of Photography), Hermann Schweer (MdB) und Hannes Jaenicke (Schauspieler) zu den Erstunterzeichnern des „Wir für Frank-Walter Steinmeier“-Aufrufs „Neue Energie! Atomkraft – nein danke!“, der im Vorfeld des Wahlkampfs für einen konsequenten Atomausstieg trommelt. Und für die SPD, die in der Zeit der Entstehung des Slogans „Atomkraft – nein danke“ keineswegs für den Atomaustieg war.

 Engagement: Weizsäcker ist Mitglied der Deutschen Zoologischen Gesellschaft, des Club of Rome und des Fördervereins Ökologische Steuerreform. Er ist Ko-Vorsitzender des Unep-Ressourcen-Panels (International Panel for Sustainable Resource Mangagement) – und war bis zum Jahr 2005 im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags.

 Autorenschaft: Nach bislang 67 Publikationen erscheint Anfang nächsten Jahres der von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Charlie Hargroves, Karl Hargroves und Michael Smith verfasste Band „Faktor Fünf. Die Formel für nachhaltiges Wachstum“ im Verlag Droemer/Knaur.

Jeder weiß, dass das eine Autoarbeiterprämie und keine Umweltprämie ist.

Wie müsste der Umbau der Wirtschaft denn stattdessen aussehen?

Ein wichtiger erster Schritt wäre es, wenn die Energiepreise immer mindestens so stark steigen, wie die Effizienz im Vorjahr gestiegen ist. Wenn Geräte 3 Prozent weniger verbrauchen, würden die Strompreise im nächsten Jahr also um 3 Prozent (plus Inflation) steigen. Denn in den vergangenen 200 Jahren sind die realen Energiepreise im Durchschnitt gesunken, nicht etwa gestiegen. Diesen verheerenden Trend müssen wir umkehren.

Das wäre praktisch eine Fortschreibung der Ökosteuer.

Ja, aber eine Form der Ökosteuer, die auf Volk und Industrie Rücksicht nimmt. Eine Ökosteuer, die richtig Geld kostet, würde in einer Demokratie nach kurzer Zeit so unbeliebt, dass sie gestoppt wird. Das kann gar nicht anders sein, solange den Menschen ihr Arbeitsplatz und ihr Geldbeutel am wichtigsten sind. Mein Vorschlag sieht aber nur vor, die Energie in dem Umfang zu verteuern, in dem wir durch größere Effizienz weniger verbrauchen. Weil die Belastung im Schnitt nicht steigt, ist das auf Dauer durchzuhalten.

Wirken sich Ihre ökologischen Erkenntnisse eigentlich auch auf Ihr Alltagsleben aus? Schließlich mussten Sie ja berufsbedingt viel fliegen.

Ich weiß genau, dass das unökologisch ist. Meine einzige Entschuldigung ist, dass es angesichts der Aufgaben unvermeidbar ist. Jeder wird einsehen, dass die Energiepolitik, die derzeit in China gemacht wird, für den Zustand des Weltklimas in 50 Jahren sehr relevant ist. Und wenn ich zu den relativ wenigen Deutschen gehöre, auf den die Chinese bei diesem Thema hören, dann wäre es klimapolitisch doch verkehrt, wenn ich sagen würde, ich fliege da nicht hin.

Halten Sie es für sinnvoll, das beim Fliegen anfallende CO 2 zu kompensieren, und falls ja, bei welchem Anbieter tun Sie das?

Es kann sinnvoll sein, wenn gleichzeitig auf biologische Vielfalt geachtet wird und keine Familien vom Land geschubst werden. Ich kann hier keine Werbung für einen Anbieter machen.

Lassen Sie uns noch einmal auf Ihre Familie zurückkommen. Ihr Vater Carl Friedrich galt ja als das letzte Universalgenie des 20. Jahrhunderts, Ihr Onkel Richard war einer der beliebtesten deutschen Bundespräsidenten. Wie geht man mit solchen Superlativen in der näheren Verwandtschaft um?

Ich denke, indem man die Tugenden hochhält, die zu der relativ großen Bedeutung überhaupt erst geführt haben. Gut zuhören können und Konsensentscheidungen zu treffen, sind Tugenden von Richard von Weizsäcker. Unbestechlich nachdenken war eine Tugend meines Vaters. Immer die Argumente der anderen Seite ernst zu nehmen, gehört sowohl zum guten Zuhören wie auch zum scharfen Nachdenken. Das versuche ich. Ob es Wirkung hat, weiß ich nicht. Da kommt dann eine dritte Tugend hinzu: die Bescheidenheit.

Ihre Zeit im Bundestag ist vorbei, Ihre Professur in Kalifornien seit kurzem ebenfalls. Den Deutschen Umweltpreis fürs Lebenswerk haben Sie auch schon bekommen. Möchten Sie nun als Pensionär mal so richtig ausspannen?

Nein. Ich möchte noch viel weiterarbeiten, etwa am Buch „Faktor fünf“ oder für die neue Energiesteuer, über die wir gesprochen haben. Ich halte auch nichts davon, dass man das mit einem bestimmten Alter nicht mehr soll. Darum unterstütze ich ein Projekt namens „Silver Workers“, bei dem Leute mit „silbernen Haaren“ unabhängig vom Alter ihre Talente für die Gemeinschaft einsetzen. Ich war 65, als ich an der University of California einen neuen Job angetreten habe. Als ich mich dort wunderte, warum mich niemand nach meinem Alter fragt, hieß es, das wäre Altersdiskriminierung – und damit gesetzeswidrig.

Ehrenmitglied sind Sie auch noch im Weltzukunftsrat. Wie lautet denn Ihre Prognose: Hat die Welt eine Zukunft?

Natürlich gibt es eine Zukunft. Die Erde ist erfreulicherweise erstaunlich robust. Wir sind leider dabei, sehr viel zu zerstören. Aber wenn wir die Hälfte der Tier- und Pflanzenarten ausrotten würden – was eine absolute Katastrophe wäre –, dann gibt es immer noch die Hälfte der Arten. Vielleicht wären dann auch die Menschen nicht mehr dabei. Aber ein Bewohner von einem fernen Planeten in der Milchstraße würde immer noch sagen: Das ist ein unglaublich schöner Planet.

■ Malte Kreutzfeldt, Jahrgang 1971, leitet das Öwi-Ressort der taz

■ Monika Schmidtke, Jahrgang 1980, ist Sozialwissenschaftlerin