: Zungenküsse werden Rechtsproblem
Die Bundesverfassungsrichter verhandeln über den Europäischen Haftbefehl. Was geschieht, wenn sich Deutsche im Ausland strafbar machen, ohne Deutschland verlassen zu haben? Paradebeispiel: der Karnevalist, der Niederländerin Kuss aufnötigt
AUS KARLSRUHECHRISTIAN RATH
„Der Nationalstaat darf in Europa keine Fluchtburg für Straftäter mehr sein“, sagte gestern der Augsburger Rechtsprofessor Johannes Masing vor dem Bundesverfassungsgericht. Mit diesen Worten rechtfertigte der Bevollmächtigte der Bundesregierung den Europäischen Haftbefehl, der die Auslieferung von Verdächtigen in EU-Staaten erleichtert. Erstmals können auch Deutsche ins Ausland ausgeliefert werden.
Geklagt hatte der Deutsch-Syrer Mamoun Darkazanli, der unter Terrorverdacht nach Spanien ausgeliefert werden soll. Doch um dessen Verfassungsbeschwerde ging es in der zweitägigen Verhandlung nur noch am Rande. Sein Anwalt Michael Rosenthal betonte vielmehr, der Europäische Haftbefehl sei eine Gefahr für alle deutschen Bürger. „Ab sofort müssen wir die Rechtsordnungen von 25 EU-Staaten beachten, sonst können wir ins Ausland ausgeliefert werden.“ Dem hielt Johannes Masing entgegen: „Wer in andere Länder reist oder dort Geschäfte macht, muss auch deren Rechtsordnungen beachten.“
Besonders interessiert waren die Richter an Fällen, bei denen sich Deutsche im Ausland strafbar machen, ohne Deutschland zu verlassen. „Wenn ein Deutscher im Kölner Karneval einer Holländerin einen Zungenkuss aufnötigt, gilt das in den Niederlanden als vollendete Vergewaltigung. Ist es richtig, dass der Deutsche, der das nicht wusste, dafür in den Niederlanden vor Gericht gestellt werden kann?“, fragte Verfassungsrichter Udo Di Fabio. Masing ging davon aus, dass deutsche Gerichte bei einem derart „peripheren Auslandsbezug“ nicht ausliefern würden. „Dann wäre das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verletzt“, argumentierte Masing.
Ein Massenphänomen ist der Europäische Haftbefehl bisher ohnehin nicht. Seit er im August 2004 eingeführt wurde, hat Deutschland nach Angaben des Justizministeriums erst 20 eigene Staatsbürger in andere EU-Staaten ausgeliefert. Dabei ging es vor allem um Vorwürfe wegen Mord, Betrug und Drogendelikten. EU-Haftbefehle gegen 60 weitere Deutsche sind noch unerledigt.
Fast alle Beteiligten kritisierten die Passivität des Deutschen Bundestags in EU-Angelegenheiten. Vor dem EU-Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl hatten die Abgeordneten der deutschen Regierung keine Aufträge für die Verhandlungen mit auf den Weg gegeben. Darkazanlis zweiter Rechtsvertreter, Rechtsprofessor Matthias Herdegen, forderte deshalb, dass solche Parlamentsmandate zumindest bei der EU-Innen- und Rechtspolitik zwingend vorgeschrieben werden. Ein Vertreter der EU-Kommission warnte jedoch davor, die Verhandlungen im EU-Ministerrat zu sehr zu erschweren.
Für Überraschung sorgte der Hamburger Innensenator Roger Kusch (CDU), der in Karlsruhe die Verfassungsbeschwerde Darkazanlis unterstützte. Kusch erklärte, der Europäische Haftbefehl verknüpfe die Rechtsordnungen Deutschlands und Spaniens so, dass der Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ verletzt sei.
Noch im November hatte Kusch die Auslieferung Darkazanlis bewilligt. Dabei hätte er sie verweigern können, ein Verweis auf hiesige Ermittlungsverfahren gegen den Deutsch-Syrer, dem Al-Qaida-Verstrickungen vorgeworfen werden, hätte genügt.
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird im Sommer gerechnet.