: Das Neue im Alten entdecken
ULTRASCHALL-FESTIVAL Im Radialsystem und in den Sophiensælen sind erstmals Werke des selten gespielten französischen Komponisten Jean Barraqué zu hören. Sein schmales Oeuvre wurde nun durch einen umfangreichen Nachlass erweitert
Dass man sich in der Musik mit der Vergangenheit beschäftigt, muss nicht aus Sehnsucht nach dem Vertrauten geschehen. Manchmal kann man auch Neues zutage fördern – selbst wenn es mehr als sechzig Jahre alt ist.
Auf dem Programm des Ultraschall-Festivals stehen dieses Jahr nachgelassene Werke des französischen Komponisten Jean Barraqué aus den späten Vierzigern und frühen 50ern, die zum Teil uraufgeführt werden. Am Samstag bot das Quatuor Diotima im Radialsystem die deutsche Erstaufführung von Barraqués einzigem Streichquartett aus dem Jahr 1950.
Dieser spektakuläre Fund machte die Beschäftigung mit Barraqué nur noch zwingender: Auf dem Dachboden der Pariser Association Jean Barraqué wurde 2009 ein Koffer mit Manuskripten und Partituren entdeckt. Bis dahin waren von dem Komponisten, der 1973 im Alter von 45 Jahren starb, nur ein halbes Dutzend Werke bekannt. Und die bekam man wegen ihrer hohen technischen und musikalischen Anforderungen nur selten zu hören. Jetzt kann man den Weg Barraqués von der tonalen Musik hin zu seinem späteren radikalen Stil nachvollziehen.
Klare Kompositionsregeln
Barraqué war neben Pierre Boulez wichtigster Vertreter des französischen Serialismus, einer Strömung im Anschluss an die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs, in der klare Regeln für das Komponieren verwendet wurden, insbesondere Reihen, mit denen sich die Aufeinanderfolge von Tönen und anderen Parametern festlegen ließen.
Mit diesen Tonreihen setzt sich Barraqué auch in seinem Streichquartett auseinander, das in vier Sätze aufgeteilt ist und selbst mit seinem spröde-abstrakt wirkenden Tonmaterial immer wieder auf vertraute Ausdrucksformen setzt. Nach zwei kurzen, tastend-nervösen Sätzen etwa hört man im dritten Satz eine Art Kantilene, in der zunächst die erste Geige und dann das Cello lange vereinzelte Melodien spielen. Aller Modernität zum Trotz lassen sich dabei Anklänge an die musikalische Tradition wie eine deutlich romantische Prägung erkennen, deren Expressivität im letzten Satz schließlich in atomisierter Form durchbricht.
Auch wenn Barraqués Quartett gut 60 Jahre vor den übrigen Beiträgen des Konzerts entstand, kam das Frühwerk gerade im Vergleich zur Konkurrenz aus der Gegenwart sehr frisch und konzentriert daher. Weder konnte der italienisch-schweizerische Komponist Oscar Bianchi mit seinem in winzige Punktereignisse aufgesplitterten ersten Streichquartett-Gehversuch über die volle Länge die Spannung halten, noch wollte des Spaniers Alberto Posadas zaghafte Hymne an das Schattenreich mitsamt ihrer elegischen Gesangsstimme einen so richtig affizieren. Und der Tscheche Miroslav Srnka verließ sich über weite Strecken auf atemloses, zugleich etwas selbstgenügsames Flirren.
Von Barraqué gibt es am Donnerstag in den Sophiensaelen noch einmal frühe Klaviermusik und Lieder zu hören. Der Pianist Nicolas Hodges wird zudem die monumentale „Sonate für Klavier“ spielen, mit der Barraqué die Sonatenform von Grund auf neu denken wollte. Frühere Ausgaben des Notentexts enthielten zahlreiche Fehler und machten unter anderem wegen der komplizierten Rhythmen eine mühsame Editionsarbeit nötig. Jetzt wird das Stück zum ersten Mal in seiner kritisch revidierten Fassung erklingen.
TIM CASPAR BOEHME