: Fluchtpunkt Essaouira
Das marokkanische Essaouira – einst ein Sehnsuchtsort der Hippies – ist eine touristische Märchenstadt. Doch viele, die hier leben, würden sich gern jenseits der Meerenge verzaubern lassen
VON LENNART LEHMANN
Essaouira! Der Name dieser kleinen Hafenstadt an der marokkanischen Atlantikküste bringt Einheimische wie Ausländer zum Schwärmen. Der Name bedeutet so viel wie „schön gestaltet“. Die Stadt gilt als Urlaubsparadies und Künstlerstadt. Orson Welles drehte hier „Othello“. Wind und Wellen ziehen Wassersportler aus aller Welt an. In der Fußgängern vorbehaltenen orientalischen Altstadt lässt sich Marokko mit all seinen Gerüchen konsumieren. Regelmäßig finden Musikfestivals statt. Die Bewohner gelten als tolerant.
Schon haben sich Ausländer vermeintliche Immobilien-Filetstücke in der Altstadt mit Blick auf das Meer gesichert. Die Geschäftsidee von Campingplätzen mit Wellnessprogramm entlang der Küste ist französischen Köpfen entsprungen. Noch kann man ein einfaches Häuschen für 25.000 Euro erstehen, doch auch Preise von 500.000 Euro sind keine Seltenheit mehr. „Ja, es kommen viele Ausländer hierher und erkundigen sich nach Immobilien“, weiß ein Immobilienhändler. „Vor allem Franzosen, Briten und US-Amerikaner.“
Eine dieser Immobilien ist das Café des Artistes, das direkt in die mit Kanonen besetzte 300 Jahre alte Stadtmauer hineingebaut ist. Der Inhaber heißt Luc und ist Franzose. Luc betreibt noch weitere Geschäfte in Marokko und hat nie Zeit. Deshalb lässt er seinen Geschäftsführer Ahmed die Stellung halten. Nur zu zwei Aussagen lässt er sich hinreißen: Das Mittelmeer ist tot – Essaouira wartet auf den Boom.
In der kleinen Straße, die zu dem Café führt, haben Künstler ihre Ateliers und erstellen hier Gemälde, meistens irgendwas zwischen naiver Malerei und Kitsch. Die Bilder hängen dann im Café des Artistes zum Verkauf aus, das übrigens einen exzellenten Blick auf das Meer zulässt. „Die Künstler produzieren für die Leute von außerhalb“, sagt Ahmed. Motive sind ihre unmittelbare Umgebung, das Blau des Meeres, das Weiß des Himmels. „Die Leute hier rennen nicht unbefriedigt auf der Suche nach etwas herum wie in Marrakesch oder Casablanca. Diese Ausgeglichenheit spiegelt sich auch in den Bildern wider“, weiß Ahmed. Erst auf Nachfrage lässt er durchblicken, dass das nur eine Fassade ist: „Sie malen auch andere Sachen, experimentieren, kritisieren. Doch das zeigen sie keinem.“
Essaouira hält dem flüchtigen Durchreisenden, dem Urlauber, nur seine schöne Seite vor. Die günstigen Grillstände am Fischerhafen lassen vergessen, mit welcher Mühe die üppigen Meeresfrüchte gegen miserable Löhne aus den Tiefen des Ozeans gezogen werden. Allabendlich verwandeln sich die Hauptstraßen der weiß gekalkten Altstadt für die nach paradiesischer Exotik lechzenden Besucher in eine Märchenstadt: Silberschmuck und bunte Tücher werden überall ausgestellt; feurig glühende bunte Lampen erleuchten die Stadt; Weihrauchduft liegt in der Luft, und man hört die entrückten Klänge der hier heimischen, mystischen Gnoua-Musik.
Essaouira gilt als Stadt der Kreativität. Warum gerade Essaouira? „Das kam durch die Hippies“, sagt Ahmed. „Vorher gab es hier nichts außer Fischer und ein bisschen Handwerk. Die Hippies brachten in den 70er-Jahren die Träume von einem anderen Sein. Sie liebten die Musik und mystifizierten das einfache Leben.“ Sie haben den Leuten gezeigt, dass man mit dem Verkauf von Kleinkunst und Folklore Geld machen kann. Die Hippies von einst kommen zwar immer noch, allerdings sind sie älter und anspruchsvoller geworden. Dementsprechend finden sich heute esoterisch eingerichtete kleine Luxushotels, ausgestattet mit Hamam und Massageräumen. Nur eine Parallelstraße weiter herrscht bittere Armut. Jugendliche lungern in zerfallenen Gassen, halten sich mit Lösungsmittel getränkte Stofflappen unter die Nase. Für Haschisch haben sie kein Geld. Zahlreiche Fenster sind mit Brettern vernagelt. Alte Menschen humpeln auf selbst gezimmerten Holzkrücken durch die Schlaglöcher. Junge Frauen in unauffällige braune Wollumhänge gehüllt warten in vom feuchten Klima modrigen, dunklen Hauseingängen auf einen Gelegenheitsfreier. Sie war verheiratet, erzählt eine der Prostituierten, aber der Mann habe sie verlassen, sei nach Spanien gegangen, seitdem habe sie nichts mehr von ihm gehört.
Der nach wie vor landesweiten dramatischen sozialen Misere will Marokkos Tourismusminister jetzt durch offensiveren Massentourismus begegnen. Bis 2010 hat er sich vorgenommen, 10 Millionen Touristen jährlich in das Königreich zu bringen. Von den meisten Einheimischen wird dieses Ziel nicht besonders ernst genommen. Erst recht nicht, seit die Fußballweltmeisterschaft 2010 an Südafrika vergeben wurde. Zudem scheinen andere Mittelmeerländer eine schier übermächtige Konkurrenz auf dem Gebiet des Pauschaltourismus zu sein, die Anreise in die Türkei etwa oder nach Spanien ist oft billiger und einfacher. Auch deshalb sank die Zahl der Touristen aus Deutschland, unabhängig von geopolitischen Ereignissen, konstant seit dem Ende der 90er-Jahre um 80 Prozent.
Also wartet das gefällige Essaouira weiter auf den Boom. Auf einen wie damals in den 70ern, als Hippies aus aller Welt die ehemalige portugiesische Atlantikfestung in ein Goa Marokkos verwandelten: Zuerst kam Jimmy Hendrix und ließ sich in dem sieben Kilometer südlich gelegenen Ort Diabat zu bewusstseinserweiternden Gitarrensolis inspirieren. Dann kamen seine Fans und die Fans der Fans. Und die Drogen. Schließlich kam die Polizei und machte dem eskalierten Hedonismus ein Ende. Heute ist Diabat ein ziemlich ödes Dörfchen. Der Wind spielt mit dem Staub der lehmigen Straßen. In der Nähe einer zusammengebrochenen Steinbrücke warten Pferde und Kamele darauf, zu ausgedehnten Reittouren durch das kleine Flussdelta geführt zu werden. Vor dem Hotel „Hendrix“ halten dann und wann Touristen mit ihren Autos und trinken auf der Terrasse einen Orangensaft. Ein altes Plakat am Eingang weist darauf hin, dass ein Hendrix-Konzert 1969 nur vier Dollar gekostet hat. Diabat schläft und wartet auf den Hochsommer und das Geld der Stadtmenschen aus Marrakesch, die an die kühlere Atlantikküste fliehen.
„Ich will hier auch weg, wie alle jungen Marokkaner“, gibt der Geschäftsführer Ahmed zu, „soll der Boom ohne mich beginnen, ich komme wieder, wenn der Boom endlich da ist!“ Für 100 Euro steht er jeden Tag 12 Stunden im Laden. „In Europa kann ich so viel Geld verdienen, dass ich davon leben kann und zusätzlich zweimal im Jahr hierher reisen“, weiß Ahmed. Er blickt zu zwei Touristinnen, die an ihrem Café au lait nippen und verzückt durch die Panoramafenster des Kaffeehauses in die Atlantikwellen starren. „Vielleicht fragt mich ja mal eine von denen, ob ich sie heirate“, grinst er.
www.essaouira.com, www.essaouiranet.com Gnaoua-Festival: 24. bis 27. Juni www.festival-gnaoua.co.ma