Erster Mai wird revoluzzerfrei
Die Vorbereitungen des 1. Mai laufen auf Hochtouren. Berlins größte Antifagruppe ist dieses Jahr aber nicht dabei. Die Antifaschistische Linke Berlin hat das Feld Kreuzberger Sektierern überlassen
VON FELIX LEE
Same procedure as every year, mag man meinen, wenn es in Berlin auf den 1. Mai zugeht. Doch in diesem Jahr ist alles anders. Kein Streit zwischen konkurrierenden Veranstaltern, keine professionell inszenierten Hasstiraden gegen Polizei und Innensenator. Und auch CDU-Hardliner haben bisher noch keine härtere Gangart gegenüber Randalierern gefordert. Der Grund: Berlins größte und politisch einflussreichste Antifa-Gruppe, die Antifaschistische Linke Berlin (ALB), ist an den Vorbereitungen rund um den 1. Mai nicht beteiligt.
Unter dem Motto „Es gibt nichts zu feiern außer die Revolution“ ruft zwar auch dieses Jahr wieder ein linksradikales Bündnis zu einer Demonstration ab 17 Uhr am Oranienplatz auf. Auch die revolutionären Maoisten der längst zu einem Ritual verkommenen 13-Uhr-Demo werden pünktlich am Start sein. Was aber fehlt, sind der der Truck der ALB und die aufwändigen Show-Einlagen, die dem „revolutionären 1. Mai“ in den vergangenen Jahren stets den besonderen Erlebnischarakter verliehen haben und tausende vor allem junge Menschen anlockten. Dieses Jahr tritt die ALB nicht einmal im Aufruf des Bündnisses auf, das nun vor allem aus einem Sammelsurium sektiererischer Gruppen aus Kreuzberg besteht.
Die offizielle Begründung der ALB lautet: Man sei zu sehr mit den Vorbereitungen zu den Gegenprotesten am 8. Mai beschäftigt. Zudem würden am 1. Mai viele der Genossen nach Leipzig fahren, um gegen den dortigen Nazi-Aufmarsch zu protestieren.
Insiderkreise berichten jedoch von einem allgemeinen Interessensschwund in der linken Szene am Kreuzberger 1. Mai. Die junge, vor allem globalisierungskritisch geprägte Protestgeneration hatte auf das Konzept des so genannten „Euromayday“ gehofft, das in Mailand und Barcelona schon lange ein Polit-Renner ist. Im linksradikalen Zusammenschluss ACT!, an dem die ALB maßgeblich beteiligt ist, gab es Pläne, den Euromayday auch nach Berlin zu holen. Damit, so die Hoffnung, hätte man den Kreuzberger 1. Mai wieder repolitisieren können – ein Anliegen, an dem in den vergangenen Jahren im Übrigen schon einige andere Initiativen gescheitert sind.
Doch die Idee des Euromayday kam zu spät. Der Aufwand, die verkrusteten Strukturen der autonomen Szene schon in diesem Jahr zu durchbrechen, wurde als zu hoch eingeschätzt. Der Zuschlag für den deutschen Euromayday ging an Hamburg. Aber für 2006 werde man für Berlin auf jeden Fall einen neuen Versuch starten, heißt es.
Wer jetzt aber denkt, am 1. Mai werde es in Kreuzberg langweilig werden, irrt. Die abendlichen Krawalle finden schon lange losgelöst von den politischen Demonstrationen des Nachmittags statt. Zudem hat die Gewaltstatistik der Polizei gezeigt, dass die Randalierer längst nicht mehr aus linksradikalen Kreisen kommen, sondern vor allem unter den Migrantenjugendlichen der Armutsviertel Neuköllns und Kreuzbergs zu finden sind, die den 1. Mai anscheinend zum Abbau ihres Alltagsfrusts nutzen.
Für zusätzliche Brisanz könnte zudem der seit Monaten schwelende Konflikt um das linke Hausprojekt Yorckstraße 59 sorgen. Die betroffenen Bewohner, denen es in den vergangenen Monaten mit vielen einfallsreichen Aktionen gelungen ist, einen Großteil der linken Szene in Berlin für sich zu gewinnen, haben am 1. Mai für 16 Uhr eine eigene Demo angekündigt.
Dann ist auch das Aggressionspotenzial auf der Gegenseite nicht zu unterschätzen. Trotz allgemeiner Besonnenheit der Einsatzkräfte kam es auch im vergangenen Jahr immer wieder zu vereinzelten Ausfällen. Und auch in diesem Jahr sollen wieder etwa 9.000 Polizisten eingesetzt werden, die Hälfte aus anderen Bundesländern, die mit Berliner Verhältnissen nicht vertraut sind.
Viele Faktoren also, die zusammengenommen doch zur Annahme verleiten, dass es auch an diesem 1. Mai wieder heißt: Same procedure as every year? Nach Sonnenuntergang am Heinrichplatz?