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Archiv-Artikel

Mit Schulen für Brasiliens Landreform

WANDERSCHULEN Brasiliens Landlosenbewegung erinnert mit ihren mobilen Schulen an Freires „Pädagogik der Unterdrückten“. Jetzt sollen „Che Guevara“ und 30 weitere Schulen verschwinden

„Mathematik machen wir im Gemüsegarten, Geografie und Politik auf den Protestmärschen“

LEHRERIN EINER WANDERSCHULE

Die Stimmung im Camp ist gelöst. Vor den Bretterhütten kreisen Kürbiskalabassen mit dampfendem Matetee. Über den Dächern aus schwarzen Plastikplanen weht die rote MST-Fahne, die Fahne der Landlosenbewegung. Auf einem Hügel liegt die Wanderschule „Che Guevara“ – drei runde Klassenräume und eine Bibliothek, allesamt aus Bambus und Plastikplanen erbaut.

Zehn Mädchen und Jungen im Alter von 9 bis 15 Jahren hören der Lehrerin Andreara Lima de Oliveira zu. Vor ihnen liegt das neue Geografiebuch, es geht um „Raum und Zeit“. Klassischer Frontalunterricht. Oder? „Methodisch und auch inhaltlich unterscheidet sich unser Betrieb gar nicht so sehr von dem der normalen Schulen“, räumt Altair Morback ein, der erfahrenste Lehrer im Camp. Als Einziger wurde er an einer MST-nahen Fachhochschule ausgebildet. „Viele unserer Erzieherinnen“, sagte er, „haben selbst nur herkömmliche Methoden erlebt, und wir arbeiten ja auch mit offiziellen Schulbüchern.“

Dennoch orientiere man sich an den Lehren von Paulo Freire. „Trotz großer Einschränkungen wollen wir den Schülern die Instrumente zu ihrer Befreiung an die Hand geben“, betont der Mittdreißiger. „Hier haben wir die Möglichkeit, uns intensiv um die einzelnen Kinder zu kümmern und zusammen mit den Familien zu arbeiten“, ergänzt Andreara Lima. Besser als in den städtischen Armenvierteln.

Anders nämlich als vor 20 Jahren rekrutiert die MST ihre Leute kaum mehr unter Kleinbauern im Hinterland, die von ihrem Land verdrängt wurden, sondern vor allem in der Peripherie der Ballungsregion Porto Alegre. Viele Familien aus Nova Santa Rita pendeln zwischen Stadt und Land hin und her, der Kinderanteil relativ gering, die Fluktuation dagegen hoch. Derzeit besuchen 70 SchülerInnen die erste bis sechste Grundschulklasse.

„Wir arbeiten sehr praxisorientiert“, berichtet Erzieherin Denise Camargo. „Mathematik machen wir im Gemüsegarten, Geografie und Politik auf den Protestmärschen. Unsere Kinder fragen mehr als andere, sie nehmen nicht alles so hin. Unseren Kampf um Land verstehen sie.“ Wanderschulen heißen die Einrichtungen, weil sie mobil sind wie die Landlosen selbst – 1996 wurden die ersten legal.

„Gehirnwäsche“ und „fehlende Kontrolle“ lauten die Begründungen, mit denen die rechte Landesregierung von Rio Grande do Sul ihnen nun den Garaus machen will. Wochenlang kreisten Hubschrauber über dem Lager, Polizei patrouillierte. Zwölf Wanderschulen gibt es im Bundesstaat, im Februar wurden sie von einem übereifrigen Staatsanwalt für illegal erklärt. Das Bildungsministerium hat die bescheidene Entlohnung der MST-LehrerInnen eingestellt. Stattdessen sollen jetzt die betroffenen Gemeinden für Transport und Beschulung aufkommen.

Eine breite Solidarisierung mit den Landlosen war die Folge, der Staatsanwalt wurde versetzt. „Politisch hat sich die Landesregierung verrechnet, sie müssen uns wieder zulassen“, hofft Morback. „Unsere letzten Gehälter hatten wir sowieso im September gesehen.“ Stattdessen hilft man sich durch Spenden und die spärlichen Bundesmittel – für Präsident Lula da Silva hat die Agrarreform schon lange keine Priorität mehr.

„Mittlerweile gibt es 30 Wanderschulen in sechs Bundesstaaten“, berichtet Isabela Camini, die gerade ihren Doktor darüber gemacht hat. In der MST-Zentrale von Porto Alegre bezeichnet die frühere Franziskanernonne die Wanderschulen als „Kontrapunkt zur kapitalistischen Schule, die aber natürlich ebenso ideologisch ist“. Der ungleiche Showdown dürfte dennoch ausbleiben. Die Gouverneurin der rechten Landesregierung ist wegen Korruptionsskandalen handlungsunfähig, und 2010 wird neu gewählt. GERHARD DILGER