Überleben hat auch mit Zufall zu tun

taz-Serie Kriegsende (Teil 6): Das KZ Sachsenhausen hatte ein Außenlager in Lichterfelde. Die beiden Niederländer Gerard de Ruiter und Peter Josef Snep waren dort interniert. Snep, der Zimmermann, baute noch an Germania. De Ruiter, der Seemann, räumte die Trümmer des untergehenden Berlins weg

„1943 war Berlin noch intakt, aber im April 1945 war es eine Schutthalde“ „Manchmal sag’ ich: ‚Ich bin ein Berliner‘. Wir erklären den Leuten, wie es war“

VON WALTRAUD SCHWAB

„Ich hab’ meine Geschichte.“ Der Satz, von Gerard de Ruiter dahingesagt, setzt Anfang und Ende in einem. Er und seine niederländischen Landsleute Peter Josef Snep und Chris Heijer sitzen mit dem Oranienburger Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke (SPD) an einem Tisch in der ehemaligen Häftlingswäscherei des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung wird hier Kaffee und Kuchen serviert.

Die Stimmung der Herrenrunde ist gut. Snep ist der Wortführer. Schon zum dritten Mal berichtet der 83-Jährige, der weit jünger aussieht, von seinem Vater, der Menschen aus Deutschland und später aus den Niederlanden in die Schweiz geschleust hat. Snep half mit und flog auf. „Den Tag, an dem ich verhaftet wurde, vergesse ich nie.“ Er war sicher, dass es sein letzter wäre. Die Nazis entschieden anders und brachten ihn ins KZ Sachsenhausen.

Beim Erinnern wird ohne Chronologie und in Minuten erzählt, was Jahre ersetzen muss. Snep etwa erwähnt immer wieder „Plötzensee“ und – wie de Ruiter, sein bedächtiger Freund mit der leidenschaftlichen Gestik – auch „Lichterfelde“.

In Plötzensee wurde Sneps Onkel hingerichtet. Als er vor kurzem zum ersten Mal vor dem Galgen in der Berliner Gedenkstätte stand und den Namen des Onkels, der so heißt wie er selbst, im Totenbuch las, da habe ihn die Trauer gepackt. „Mein Onkel hatte eine Tanzschule.“ Snep kramt eine alte Postkarte hervor. Darauf ist der Saal abgebildet: In der Mitte der Tanzboden, drumherum Tische und Stühle. Das Bild wirkt lebendig, obwohl kein Mensch zu sehen ist. Ein bisschen ist es, als tanze stellvertretend das ganze Mobiliar.

Und was ist mit „Lichterfelde“, dem anderen Schlüsselwort? Das KZ Sachsenhausen hatte da, an der Wismarer Straße im Süden Berlins, ein Außenlager. Snep und de Ruiter waren dort interniert. Snep war Zimmermann. Solche Leute wurden gebraucht für die Errichtung der ewigen Stadt Germania, die Berlin einmal werden sollte. Damit die gefangenen Handwerker nicht täglich in die Stadt gekarrt werden mussten, wurde das Außenlager in Lichterfelde gebaut. Snep hat die Baracken für 800 Gefangene zusammengezimmert. Zu Ende des Krieges lebten hier doppelt so viele. Kurz nachdem das Lager fertig war, bekam Snep den Befehl, nach Amsterdam zu gehen und sich dort zum Zwangsarbeitsdienst zu melden. Er ist zurück, aber kaum angekommen, tauchte er unter. Unweit des Verstecks von Anne Frank in der Prinsengracht hielt er sich verborgen. „Was sie gehört hat, habe ich auch gehört.“

Warum Snep zurück geschickt wurde? „Ja, warum? – Bei den Nazis gab es keine Logik“, meint Gerard de Ruiter. Er kam 1943 nach Lichterfelde. Sein Freund habe noch an Germania gebaut, er allerdings habe nur die Trümmer der untergehenden Stadt weggeräumt. „Als ich 1943 nach Lichterfelde kam, war Berlin noch intakt. Aber im April 1945 war es eine Schutthalde.“

De Ruiter, zwei Jahre jünger als Snep, war Seemann. Er wollte mit dem Fischdampfer nach England und zur Armee. „Man kann die das doch nicht alleine machen lassen.“ Auf der Nordsee wurde er von der deutschen Kriegsmarine abgedrängt und strandete in Norwegen. Von dort wollte er nach Schweden. Kurz vor der Grenze wurde er verhaftet. Mit fast tausend Skandinaviern kam er nach Sachsenhausen. Die meisten wurden ins gefürchtete Klinkerwerk, eine Großziegelei, geschickt. 25 Leute aber nach Lichterfelde.

Als de Ruiter in Berlin ankam, hatte sich Germania schon erledigt. Die Internierten wurden nun gebraucht, um Schäden an NS-Einrichtungen zu reparieren: Fenster ersetzen, Dächer flicken, Schutt beseitigen. Als Bauarbeiter lernte de Ruiter die ganze architektonische Nazi-Infrastruktur kennen: von den Villen der NS-Größen im Grunewald bis hin zu den Machtzentralen von Gestapo und SS an der Prinz-Albrecht-Straße. Nachdem das Prinz-Albrecht-Palais von Bomben beschädigt war, wurden die KZ-Häftlinge in die baufälligen Gebäude geschickt, um sie zu sichern. „Das war lebensgefährlich. Da konnte immer was einstürzen.“

De Ruiter kramt eine Fotokopie des Prinz-Albrecht-Palais in halb zerstörtem Zustand aus einem Umschlag. „Da war ich.“ Er tippt mit dem Finger auf das Gebäude. „Himmler, Heydrich, die hatten da ihre Büros. Wir haben Dokumente geklaut. Ich hab sogar einen Brief von König Leopold von Belgien geklaut.“ Ob sie nicht durchsucht wurden? „Sicher. Trotzdem.“ Er wird ungeduldig, weil er das Unausgesprochene aussprechen soll: Dass ihnen klar war, dass NS-Unterlagen für später wichtig sind, selbst wenn sie nicht wussten, was sie mitnehmen.

Das Außenlager Lichterfelde war brutal wie alle anderen KZ. „Es wurde geprügelt, gehungert und gehängt.“ Bei Bombenangriffen durften die Internierten nicht in die Bunker. Aber von der Arbeit her, sagen die beiden Männer, war es anders: Die Posten, die sie bewachten, waren nicht so brutal. „Ich meine, die Berliner hätte es ja sehen können.“ Snep weiß von einer Episode zu berichten, wo die Aufpasser während der Pause sogar einschliefen, das Gewehr neben dem Stuhl. „Wir hätten fliehen können, aber wohin in Häftlingskleidung?“

„Es passierten allerhand idiotische Geschichten“, bestätigt de Ruiter. Mal reparierte einer das Dach eines Kühlhauses, in dem Fleisch und Wurst lagerte. Klar fanden sie einen Weg, sich den Bauch voll zu schlagen. Ein anderes Mal gelang es einem, zwei Esskübel des Lagers in einer SS-Kantine füllen zu lassen und zurückzuschmuggeln. Außerdem merkte de Ruiter, dass im NS-Staat nicht mehr alles nach Plan lief, wenn er etwa nach getaner Arbeit von den Leuten ein Brot bekam. An die heimliche Geburtstagsfeier einer BDM-Führerin erinnert er sich auch. Er und andere Häftlinge sollten aufpassen, dass die Party nicht aufflog. Außerdem traf de Ruiter bei den Aufräumarbeiten ab und zu auf NS-Offiziere, die sich später als Leute des 20. Juli rausstellten. „Wenn die uns sahen, reagierten sie anders auf uns als überzeugte Nazis.“ In Berlin jedenfalls, so der Niederländer, waren sie näher dran am Niedergang des Dritten Reichs.

Die Befreiung allerdings durften die Gefangenen nicht in Berlin erleben. Am 21. April 1945 wurden die Lichterfelder Häftlinge, wie fast alle aus dem KZ-Sachsenhausen, auf den Todesmarsch geschickt. De Ruiter kam bis in den Wald bei Below. „Sie wissen, was da passierte. Ich dachte, die werden uns alle erschießen.“ Er floh und schaffte es zu den Russen. In der Nähe von Pritzwalk erlebte er das Kriegsende. Vor allem akustisch hat er es in Erinnerung: Die Glocken läuteten, die Frauen rannten zur Kirche, und die Russen schleppten die Ketten von liegen gebliebenen Panzern fort.

Auch wenn das KZ als schreckliche Erfahrung das Leben der beiden Männer prägt, sagt de Ruiter doch: „Für mich war das eine wichtige Geschichte.“ Snep nickt. Vorher war ihr Horizont eng. Danach waren sie Weltbürger. De Ruiter ist später als Kapitän über alle Meere gefahren.

Nach seiner Pensionierung Anfang der 80er-Jahre stellte er sich der Geschichte. Er reiste nach Berlin, suchte die alten Orte. Niemand konnte ihm sagen, wo das Prinz-Albrecht-Palais stand. Als er die Brache, begrenzt von Stresemann- und Wilhelmstraße sowie der Mauer, endlich fand, „war ich ganz allein. Kaninchen rannten um meine Füße.“ Unverständlich für ihn, dass die „Topographie des Terrors“ noch immer nicht errichtet ist. Er glaubt, dass der Bau des Dokumentationszentrums absichtlich verschleppt wird. „Das ist das beste Beispiel für Verdrängung in Deutschland“, sagt er. Trotzdem: De Ruiter und Snep haben Berlin in den vergangenen Jahren lieben gelernt. „Manchmal sag’ ich: ‚Ich bin ein Berliner‘. Wir erklären den Leuten heute, wie es war.“

Weil die Umstände im KZ Lichterfelde anders waren als in den meisten Arbeits- und Vernichtungslagern, konnten Snep und de Ruiter mit Unverfrorenheit und einer gehörigen Portion anarchistischer Praxis eigene Handlungsspielräume finden. Sie konnten sich, wenn auch nur heimlich, auf diese Weise doch gegen die NS-Willkür wehren.

Chris Heijer, der dritte Niederländer, der am Tisch in der Häftlingswäscherei sitzt, sagt nichts. Er war sechs Jahre alt, als er nach Sachsenhausen kam. Sein Vater, ein Offizier, wurde hier erschossen. Heijer konnte der Brutalität des Ortes nichts entgegensetzen. Auch wenn er meint, dass er sich nicht erinnern könne, muss er doch aufpassen, dass ihn die Panik, die er als Kind hier erlebte, nicht einholt.

Am 21. April findet um 10 Uhr eine Gedenkveranstaltung mit ehemaligen Häftlingen des Lagers Lichterfelde an der Wismarer Straße statt. Um 18 Uhr gibt es einen „Abend der Begegnung“ im Gemeindehaus, Luzerner Str. 10–12