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Archiv-Artikel

„Das Interesse an uns ist immens“

FILMGESCHICHTE Vor 20 Jahren wurde das Zeughauskino eröffnet. Ein Gespräch mit dem Kinoleiter Jörg Frieß über einen Kanon, der schwingt, Inspirationen aus dem Netz und die Notwendigkeit, Filme aus der NS-Zeit zu zeigen

Jörg Frieß

■ Jörg Frieß studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Publizistik in Köln, Nijmegen und Berlin. Nach seinem Studium arbeitete er von 1998 bis 2004 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Audiovisuelle Medienwissenschaft der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“, Potsdam-Babelsberg. Von 2004 bis Juli 2006 nahm er eine Gastprofessur im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation der Universität der Künste Berlin wahr. Seit August 2006 leitet Jörg Frieß die Kinemathek des Deutschen Historischen Museums.

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Frieß, als das Zeughauskino vor 20 Jahren eröffnet wurde, lief „Der Hauptmann von Köpenick“. Die taz schrieb damals etwas hämisch: „Braucht es dafür ein neues Kino?“ Was sagen Sie: Wozu braucht es das Zeughauskino?

Jörg Frieß: Um die Filmgeschichte offen zu halten. Es liegt mir am Herzen, Filmreihen so zu gestalten, dass sie den Kanon sprengen oder ihn zumindest zum Schwingen bringen, dass wir in Geschichts- und in Filmdebatten eingreifen und dabei immer aus der gesamten Filmgeschichte schöpfen.

Das klingt einleuchtend, aber auch ein wenig abstrakt.

Ich nenne Ihnen zwei Beispiele, zwei Langzeitprojekte, die für dieses Profil stehen. Zum einen die Reihe „Berlin.Dokument“, eine Filmreihe, die versucht, die Geschichte Berlins entlang der überlieferten dokumentarischen Aufnahmen der Stadt zu erzählen. Unser Kurator Jeanpaul Goergen recherchiert in den Archiven und fragt sich zum Beispiel: Welche Aufnahmen aus der Kaiserzeit sind überliefert, die wir noch nicht kennen oder so noch nicht gesehen haben? Liegen etwa im Bundesarchiv-Filmarchiv und in der Deutschen Kinemathek Kopien, die gerade erst gesichert wurden oder die für unsere Reihe „Berlin.Dokument“ gesichert und erstmals wieder vorgeführt werden könnten?

Und das zweite Beispiel?

Unsere Reihe „Unter Vorbehalt“. In unserer täglichen Arbeit stoßen wir immer wieder auf so genannte Vorbehaltsfilme …

Filme aus dem Nationalsozialismus, die nur unter bestimmten Auflagen gezeigt werden dürfen …

… und irgendwann haben wir uns gefragt: Müsste man dieses Phänomen der besonderen Vorführpraxis von Vorbehaltsfilmen nicht mal zu einem Thema machen? Und wir haben uns dazu entschlossen, alle Vorbehaltsfilme zu programmieren, sie zu sichten und mit dem Publikum zu diskutieren; das wäre ein Beispiel für eine Debatte, die wir führen.

In Ihrer Programmgestaltung sind Sie an das Programm des Deutschen Historischen Museums gebunden, nicht wahr?

Das Zeughauskino ist Teil des Deutschen Historischen Museums, das heißt, es gibt die Bitte, bei jeder Ausstellung, die das Museum plant, zu überlegen, ob wir die Ausstellung mit einer Filmreihe begleiten können. Dabei ist es uns wichtig, im Zusammenspiel mit den Ausstellungskuratoren den Kinosaal wirklich als Erweiterung der Ausstellung zu begreifen, als den Ort, an dem die überlieferten filmhistorischen Dokumente adäquat gezeigt werden können.

Wenn ich Sie richtig verstanden habe, zeigen Sie längst nicht nur Spiel- und Dokumentarfilme, sondern auch unerschlossenes Material, Schnipsel, Fragmente – das ist ja etwas, was man zum Beispiel im Babylon-Mitte nicht sehen würde.

Es gehört zum Konzept, sich ein Thema vorzunehmen und dabei zu überlegen: Was gibt es jenseits der Filme, die ad hoc einfallen, also zum Beispiel im Bereich des Kurzfilms, des Industriefilms, des Werbefilms? Wir haben in Berlin ja zwei riesige Filmarchive, das Bundesarchiv-Filmarchiv und die Deutsche Kinemathek, dort liegt ein gewaltiger Fundus.

Das heißt auch, dass Sie sich an ein sehr spezifisches Publikum wenden.

Sie sprechen eine wichtige, aber schwer zu beantwortende Frage an: Was ist das Publikum? Es gibt eine kleine Gruppe, die ich als Stammpublikum des Zeughauskinos bezeichnen würde. Daneben beobachte ich, dass die Zuschauer hochgradig selektiv auf unser Angebot zugehen. Die Leute pieksen sich einzelne Vorstellungen heraus, für die sie sich begeistern können. Gleichzeitig gibt es bei einzelnen Reihen – bei den Vorbehaltsfilmen ist das ganz klar zu beobachten – eine größere Gruppe, die das Konzept gutheißt und viele Veranstaltungen dieser Reihe besucht, also eine Art Stammpublikum für diese Reihe bildet.

„Wir können Vorbehaltsfilme anschauen, ohne dass wir Nazis werden“

Heute ist ja viel mehr Filmgeschichte verfügbar als vor 20 Jahren, auf DVD, aber auch legal und illegal im Netz. Macht sich das bemerkbar, wenn man ein Kino wie das Zeughauskino betreibt?

Das ist schwierig einzuschätzen. Ich würde vorschlagen: Je mehr Möglichkeiten es gibt, sich mit Filmgeschichte zu beschäftigen, desto wahrscheinlicher ist ein wachsendes Interesse für Filmgeschichte, desto besser ist das fürs Zeughauskino.

Weil es Neugier stiftet?

Und auch Auseinandersetzung und Diskurs. Es entstehen Communities und cinephile Strömungen, die es so vorher nicht gab. Und wenn diese Communities auf ein Programm aufmerksam werden, sagen sie sich: „Ob ich mir das zu Hause auf dem Monitor angucke oder im Kino … da kann ich doch auch mal wieder ins Kino gehen.“ Die Vorbehaltsreihe zum Beispiel zieht ein jüngeres Publikum an, bei dem ich staune, weil es die Filme zum Teil schon gesehen hat. Aber sie kommen eben trotzdem zu uns ins Kino, obwohl sie zu Hause eine Videokopie besitzen.

Warum ist es denn überhaupt wichtig, Filme aus der Zeit des Nationalsozialismus zu zeigen?

Die Vorbehaltsfilme? Weil nur wenige Menschen sie kennen, obwohl diese Filme im Reden über das Kino des Dritten Reichs eine so große Rolle spielen. Es gibt eine sehr starke Reduktion des NS-Kinos auf diese Filme, man denkt ganz schnell an eine bestimmte Form von Propaganda, an „Hitlerjunge Quex“ und „Jud Süß“. Und da sehe ich zwei Probleme: Zum einen nimmt man die Spannbreite des Kinos im Dritten Reich nicht wahr, und zum anderen spricht man über etwas, was man nicht gesehen hat.

Sie rahmen diese Vorführungen mit Vorträgen, Einführungen …

… und mit Gesprächen, und das Interesse ist wirklich immens. Wir laden einen Referenten ein, der eine Einführung gibt und nach der Vorführung für ein Publikumsgespräch zur Verfügung steht.

Vor längerer Zeit habe ich „Tiefland“ von Leni Riefenstahl im Zeughauskino gesehen, da gab es keine diskursive Rahmung. Das hat mich irritiert.

„Tiefland“ steht nicht auf der Liste der Vorbehaltsfilme. Aber es gibt natürlich auch abwehrende Zuschauerreaktionen, Leute, die keine Lust auf diese Einführungen, auf das Belehrende haben. Die wollen endlich den Film sehen und scharren mit den Füßen. Aber das tut dem Konzept keinen Abbruch. Natürlich soll ein Besuch im Zeughauskino auch Spaß machen, und wir zeigen sehr viele Filme ohne Einführung, aber bei bestimmten Programmen gehört eine Rahmung der Vorführung einfach dazu.

Retrospektive Fritz Lang

■ Zum 20. Geburtstag päsentiert das Zeughauskino eine fast vollständige Retrospektive der Filme von Fritz Lang, der das Kino der Weimarer Repulik mit Filmen wie „Die Nibelungen“, „Metropolis“, „M“, „Das Testament des Dr. Mabuse“ geprägt hat. Den Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm vollzog er mühelos; und auch ein anderer Wechsel glückte ihm: 1933 verließ er Deutschland, nach einem kurzen Aufenthalt in Frankreich ging er nach Hollywood, wo er sich mit Arbeiten wie „Fury“, „Hangmen Also Die“ und „Rancho Notorious“ bewährte.

Es muss ja nicht belehrend sein.

Die Einführungen werden meines Erachtens ganz unterschiedlich wahrgenommen. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass es Zuschauer gibt, die einem nostalgischen Kinoflair frönen, die endlich mal wieder einen „guten“ Film sehen wollen, im Kino, nicht zu Hause, einen Film, in dem es nicht so „schnell“ zugeht, in dem man den Dialogen mühelos folgen und die alten Stars bewundern kann. Aber auch diese Publikum muss durch die Einführung durch.

Anderswo geht man viel unverfrorener mit Propagandafilmen um. Die Filmbiennale von Venedig etwa hatte mehrere Retrospektiven, die sowjetische oder chinesische oder auch italienisch-faschistische Propagandafilme zeigten, ohne diskursive Rahmungen. So konnte man zum Beispiel ein Musical sehen, das Stalins Agrarreform in der Sowjetunion in höchsten Tönen pries.

Möglicherweise gibt es einen Trend hin zur Entpolitisierung. Vielleicht verlieren diese Filme den Nimbus des Gefährlichen umso mehr, je größer der historische Abstand wird.

Könnte es sein, dass die Zuschauer inzwischen klug genug sind, der politischen Propaganda nicht auf den Leim zu gehen?

Bei unserer Vorbehaltsreihe gibt es eine Gruppe von Zuschauern, die fordern: Man muss diese Produktionen freigeben! Es sind oft die Jüngeren, die das fordern: Zeigt diese Filme! Massiv wird zum Beispiel jetzt gefragt: Wann läuft endlich „Jud Süß“? Emphatisch gesprochen, es existiert da ein großes Vertrauen: Wir können der Propagandaarbeit der Nationalsozialisten standhalten, wir können uns das anschauen, ohne dass wir gleich zu Neonazis werden. Wobei die Einführungen und Gespräche immer wieder zeigen, dass das historische Wissen über die Filmproduktion und die Filmrezeption nicht so verbreitet ist.