: Touristen sehen keine Skandale
Die Reisebranche boomt, die Deutschen arbeiten weiter an ihrem Ruf als Weltmeister beim Urlauben, die Stuttgarter CMT bleibt ihre Wallfahrtstätte. Auch in diesem Jahr schrieb sie wieder Rekordzahlen: 225.000 Besucher und 2.000 Aussteller aus 96 Ländern. Die Tourismusindustrie gilt schließlich als Branche mit weißer Weste, präsentiert sich gern als Retter von Arbeitsplätzen, Umwelt und Kultur. Also alles prima, alles bestens. Oder?
von Rainer Lang
Zunächst ein paar nüchterne Zahlen. Nach Schätzungen von Experten trägt der Tourismus bis zu 14 Prozent zum Klimawandel bei. Vor allem durch die Flugreisen. Studien zeigen, dass die Reiselust nach einem Rückgang durch die Krise im Jahr 2009 anschließend wieder gestiegen ist. Die internationalen Ankünfte werden von 940 Millionen auf über eine Milliarde steigen. Von 2009 auf 2010 sind die weltweiten Emissionen um knapp sechs Prozent angewachsen.
Hungerkrisen im Wohnzimmer angekommen
Und weiter: Der Klimawandel hängt eng mit Menschenrechten zusammen. Denn unter dem enormen Ressourcenverbrauch leiden momentan am stärksten die Menschen in den ärmsten Ländern. Der Anstieg der Rohstoffpreise bedeutet, dass sich immer weniger Menschen die lebensnotwendigen Nahrungsmittel leisten können. Die weltweite Hungerkrise ist inzwischen über die Medien in den bundesdeutschen Wohnzimmern angekommen.
Da freut es einen, wenn sogar in der Glitzerwelt der CMT über das Thema „Menschenrechte verwirklichen! Eine Sache des Tourismus?“ gesprochen wird und viele Leute zuhören. Es scheint also doch nicht nur um ungebremstes Wachstum und den immer günstigeren Pauschalurlaub zu gehen.
Aber Vorsicht vor Pauschalkritik. Der Tourismus ist nicht nur schlecht, er hat auch seine guten Seiten. Sonst wären alle Ansätze zum nachhaltigen Reisen, wie sie zum Beispiel das „forum anders reisen“ propagiert, sinnlos. Außerdem ist er für viele Entwicklungsländer, trotz aller negativen Begleitumstände, zu einer wichtigen Devisenquelle geworden.
Er schafft tatsächlich Arbeitsplätze und trägt bisweilen sogar zum Erhalt der Natur bei. Das sieht man auf der Insel Hispaniola in der Karibik, die in zwei Teile zerfällt. Das bettelarme Haiti hat keine Wälder mehr, weil sie von den Armen buchstäblich verfeuert werden. Die benachbarte Dominikanische Republik, wo trotz weit verbreiteter Armut ein gewisser Wohlstand entstanden ist, hat bewaldete Hügel. Nach Haiti fahren höchstens die Hilfsorganisationen, in die Dominikanische Republik die Urlauber.
Trotzdem: Es bleiben die enorm klimaschädigenden Flugreisen, der Abfluss von Devisen an die internationalen Konzerne, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, der Ausverkauf von Kulturen und die Prostitution. Besonders schrecklich jene von Kindern.
Superreiche kaufen unberührte Mädchen
Brutale Szenen spielen sich in asiatischen Ländern ab. Hört man die Berichte der Minderjährigen, wähnt man sich in mittelalterlichen Folterkammern. Ich habe Einrichtungen für missbrauchte Kinder besucht, etwa in Kambodscha, wo sich Superreiche aus Nachbarländern unberührte Mädchen für teures Geld kaufen und sie vergewaltigen.
Davor verschließen die Fernwehstiller gerne die Augen und schwärmen lieber davon, wie eindrücklich ihnen die Begegnungen mit den wilden Tieren in den Reservaten in Botswana in Erinnerung geblieben sind. Ein nachhaltiges Erlebnis, sagen sie. In Wahrheit ist Botswana ein Beispiel für eklatante Menschenrechtsverletzungen. Dort werden die Buschmänner von ihrem angestammten Land vertrieben, damit sie den Safaritourismus nicht stören. Um die Ureinwohner fernzuhalten, werden sogar Brunnen versiegelt.
Ähnliches habe ich erlebt, als ich für „Brot für die Welt“ nach Mosambik gereist bin. Das evangelische Hilfswerk unterstützt dort die Menschen im Kampf um Landrechte. Konkret Kleinbauern, die wegen eines touristischen Projekts umgesiedelt wurden. Versprochen wurde ihnen fruchtbares Land, 30 000 Hektar groß, bekommen hat es eine Gruppe von Investoren – für den Anbau von Zuckerrohr. Die Bauern mussten sich mit Almosen begnügen und hatten nicht mehr genügend Land in der Nähe ihrer Siedlungen, um ihre Tiere zu weiden und Felder zu bewirtschaften. Die Urlauber in ihren luxuriösen Lodges haben davon selbstredend nichts mitbekommen.
Auch der Blick auf Nordafrika fällt beschämend für den Tourismus aus. Da ist man jahrelang in diktatorisch regierte Länder gereist, ohne sich darum zu scheren, dass außerhalb der Hotelanlagen massiv Menschenrechte verletzt werden. Die Frage muss also gestellt werden, ob es nicht notwendig ist, solche Länder zu meiden, ausgesprochene Diktaturen gar zu boykottieren. Das beliebte Birma zum Beispiel. Es sei denn, man wollte den gewaltigen Raubbau an der Natur erleben und sich durch riesige Fisch- und Shrimpsfarmen führen lassen, die unseren Bedarf an günstigen exotischen Nahrungsmitteln decken. Allerdings sind diese Touren nicht im Traveller's Guide verzeichnet.
Reisejournalisten mögen keine kritischen Töne
Auch der Reisejournalismus umfährt solche Problemgebiete weiträumig. Er ist völlig unpolitisch und sorgt für die schönen Seiten in den Medien. Das heißt, die Leser, Hörer oder Zuschauer sollen Anregungen dafür bekommen, wo sie sich erholen können, wo sie die scheinbar letzten Paradiese dieser Erde entdecken können. Schließlich sollen sie angeregt werden, eine Reise zu buchen, und die Medien freuen sich über das Werbegeschäft. Kritische Töne sind da nur störend.
In welchem Reiseteil werden die sozialen und politischen Verhältnisse in einem Urlaubsland angesprochen? Die Veranstalter, die Journalisten zu Reisen einladen, haben daran nur geringes Interesse. Die Medien, die sich einladen lassen, ebenso – und sie übersehen dabei, dass sie zumindest einen Teil ihrer Kundschaft missachten. Jene Menschen, die Fragen stellen, die sich für Hintergründe interessieren, die mehr über die wirkliche Lage in den Urlaubsländern wissen wollen.
Sie wollen bewusster reisen. Sie zahlen einen Klimaausgleich für Flugreisen, indem sie in entsprechende Klimaprojekte investieren. Sie wählen örtliche Anbieter und private Unterkünfte, gehen sparsam mit Ressourcen wie Wasser oder Energie um und informieren sich vorher umfassend darüber, worauf sie sich einlassen.
Wer so wegfährt, kann wieder herstellen, was im heutigen Tourismus verloren gegangen ist: das Reisen als Verständigung zwischen den Kulturen und als Beitrag zu einem friedlicheren Miteinander. Das gelingt aber nur, wenn es sich die Reichen nicht auf Kosten der Armen gut gehen lassen.
Rainer Lang ist Sprecher der evangelischen Hilfswerke Diakonie Katastrophenhilfe und „Brot für die Welt“. Der 57-Jährige war in den letzten Jahren bei allen großen Katastrophen vor Ort
Mehr aus der Rubrik „Überm Kesselrand“ auf