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Archiv-Artikel

Kein Hindernis für den EU-Beitritt

Der Bundestag diskutiert nicht spannend, aber klug über den Armenien-Antrag der Union. Die Türkei soll die Vertreibung und Ermordung der Armenier im Jahr 1915 als Teil ihrer Geschichte akzeptieren. Das Wort „Völkermord“ vermieden alle Parteien

VON STEFAN REINECKE

Von Völkermord kann man, laut UNO-Konvention von 1948, sprechen, wenn eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zerstört wird. Dies war 1915 der Fall, als die Türkei hunderttausende Armenier deportierte, zwangsassimilierte, tötete und verhungern ließ. Die Autoren der UNO-Konvention hatten 1948 auch das Schicksal der Armenier im Sinn, als sie die Kriterien formulierten.

In der Bundestagsdebatte gestern fiel das böse Wort „Genozid“ nicht – oder nur mit sofortiger Einschränkung. Auf keinen Fall wolle man, so der außenpolitische Experte der Grünen, Fritz Kuhn, die Türkei vor den Kopf stoßen. Was 1915 geschah, sei seiner Ansicht nach zwar ein Genozid gewesen – aber von der Türkei diese Einsicht zu verlangen, wäre eine unkluge Zuspitzung. Historisch Recht zu haben, so Kuhn, nutze nichts. Der Christdemokrat Friedbert Pflüger meinte: Wir wollen nicht mit dem Knüppel kommen. Ja, die Union habe bewusst darauf verzichtet, die Gräueltaten als „Völkermord“ zu bezeichnen, um die Auseinandersetzung nicht zu erschweren.

Es war eine ordentliche, fast beschauliche Debatte. Ohne Zwischenruf und ohne Wortmeldung. Friedbert Pflüger lobte den Grünen Fritz Kuhn, Fritz Kuhn den Antrag der Union, und der Sozialdemokrat Markus Meckel den Christdemokraten Christoph Bergner. Alle zusammen schließlich lobten die europäische Erinnerungskultur, mit deren Vorzügen sich die Türkei noch vertraut zu machen habe.

Man war sich einig: Moralischen Überlegenheitsgesten gelte es zu vermeiden, zumal sich die Deutschen 1915 der untätigen Mitwisserschaft an den Verbrechen schuldig gemacht hätten. Die Türkei wolle man keinesfalls auf die Anklagebank setzen, sondern vielmehr in die europäische Erinnerungskultur einbeziehen. Der Antrag der Union, so Pflüger, solle keinesfalls ein Hindernis für die Türkei auf dem Weg nach Europa sein – im Gegenteil.

Unter Unterhaltungsaspekten war die Debatte eine glatte Enttäuschung. Es ging nicht wie im Parlament zu – mit Rede und Gegenrede, mit Polemik und Gegenanschuldigung –, sondern eher wie in einer evangelischen Akademie. Sechs Redner suchten gemeinsam nach den passenden Worten. Positiv formuliert: Wer befürchtet hatte, dass sich die Union mit dem Thema Armenien parteitaktisch gegen einen Türkeibeitritt in die EU munitionieren würde, wurde angenehm überrascht.

Diese Aussprache war insofern keine Debatte. Es war vielmehr eine Demonstration der Vernunft, die zwei wesentliche Ziele zu verbinden suchte: Zum einen ging es darum klarzustellen, dass man sich von den schrillen türkischen Reaktionen nicht beeindrucken ließ. Der türkische Botschafter hatte ja der Union im Vorfeld unterstellt, sich mit ihrem Antrag zum Sprecher des armenischen Nationalismus zu machen.

Gleichzeitig versuchte man die Kampfansage der türkischen Offiziellen und Medien ins Leere laufen zu lassen, indem jede Kritik an der Türkei stets mit Lob und Ermunterung verbunden wurde. Meckel, Kuhn und Pflüger entdeckten in der Türkei ein gespaltenes Bild – einerseits noch immer Verleugnung des Völkermords und Repression gegen den Schriftsteller Orhan Pamuk, der das böse Wort vom Genozid in den Mund genommen hatte, andererseits Aufbruch in die Zivilgesellschaft.

Am schärfsten, wenn auch im Ton konziliant, trat dabei Markus Meckel auf, der von der türkischen Regierung forderte, sich demonstrativ vor den mit Todesdrohungen bedachten Literaten Pamuk zu stellen. Es war keine spannende Debatte. Aber eine kluge.

Der drei Seiten lange Unions-Antrag wurde an die Ausschüsse überwiesen, um ihn so zu formulieren, dass alle Parteien ihm zustimmen können.