: Wenn Eltern das Kindeswohl gefährden
SORGERECHT In Hamburg ist die Zahl der Sorgerechtsentzüge überdurchschnittlich gestiegen – in Bremen drastisch gesunken. Die Behörden äußern sich nur vorsichtig, wie das zu deuten sei
Petra Kodré, Sozialbehörde Bremen
VON FRIEDERIKE GRÄFF
Die Zahl der Sorgerechtsentzüge im Jahr 2008 ist in Hamburg deutlich über dem Bundesdurchschnitt angestiegen. Während bundesweit rund acht Prozent mehr Kinder als im Vorjahr der elterlichen Sorge entzogen wurden, waren es in Hamburg mehr als 17 Prozent. Das ergab die Antwort des Senats auf eine Anfrage des SPD-Abgeordneten Thomas Böwer.
Doch so eindeutig die Zahlen, so uneindeutig ihre Interpretation. Denn was die einen als Zeichen verstärkten Hinschauens werten, interpretieren die anderen zumindest als Anlass, staatliche Hilfen genauer unter die Lupe zu nehmen. SPD-Mann Böwer warnt vor „monokausalen Erklärungen“. Der Anstieg der Sorgerechtsentzüge sei einerseits Folge größerer „Sensibilisierung“, wie sie nach dem Verhungern des Mädchens Jessica 2005 stattgefunden habe. Zugleich sei der „dramatische Anstieg der Zahlen“ aber auch Anlass, „das gesamte Jugendhilfesystem auf den Prüfstand zu stellen“. Schließlich habe man in Hamburg-Mitte mit 230 Fällen etwa so viele wie das gesamte Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zu verzeichnen. Eine weitere Frage sei die der Pflegefamilien. Man versuche, so Böwer, das Angebot auszubauen. „Doch wir kommen dem eigentlichen Bedarf nicht hinterher – und man kann schließlich niemanden zur Pflegefamilie bestimmen“.
Ähnlich ambivalent wie Böwer deutet Jasmin Eisenhut, Sprecherin der Hamburger Sozialbehörde, die Statistik. Der Anstieg der Sorgerechtsentzüge gehe einher mit einer Zunahme der Meldungen auf eine mögliche Gefährdung von Kindeswohl. Dieses genaue Hinsehen sei „positiv zu werten“. Andererseits zeigten die zahlreichen Sorgerechtsentzüge, „dass bei vielen Eltern eine mangelnde Bereitschaft besteht, Hilfen anzunehmen und daran mitzuwirken“.
Die Sozialbehörde hofft nun, dass sich die von der Stadt eingerichteten frühen Hilfe wie das Hausbesuchsprogramm oder die Eltern-Kind-Zentren in künftigen Statistiken niederschlagen werden. Mangel an Pflegefamilien sieht Eisenhut dagegen nicht: Sowohl bei den aufnehmenden Familien als auch bei den stationären Einrichtungen gebe es ein ausreichendes Angebot.
Auffällig ist, dass die Zahlen innerhalb der einzelnen Stadtteile stark schwanken. In Wandsbek und Hamburg-Mitte haben sie um 75 beziehungsweise rund 30 Prozent zugenommen. In Harburg und Altona sind die Fälle dagegen um rund zehn Prozent zurückgegangen. Für den Bezirk Mitte ist die Erklärung relativ einfach zu finden: durch die Bezirksreform des Jahres 2007 ist dort das sozial schwache Wilhelmsburg hinzugekommen. Zudem gehe es in vielen Fällen um Großfamilien, so der Sprecher des Bezirks, in denen mehrere Kinder den Eltern auf einmal entzogen würden. In Wandsbek tut man sich schwerer, eine Erklärung zu finden. Im Bezirk wohnten sehr viel junge Familien, versucht man es in der Wandsbeker Pressestelle. Außerdem habe man mit Jenfeld ebenfalls einen sozialen Brennpunkt.
So wie in den einzelnen Hamburger Stadtteilen klafft die Entwicklung auch in den nördlichen Bundesländern weit auseinander. Während Mecklenburg-Vorpommern einen ähnlich hohen Anstieg wie Hamburg zu verzeichnen hat, ist die Zahl der Fälle in Niedersachsen nur um rund vier Prozent gestiegen, in Bremen ist sie sogar um ein Viertel zurückgegangen. Doch die Sprecherin der Bremer Sozialbehörde, Petra Kodré, sieht darin allein keinerlei Anlass zur Entwarnung: „Man kann nicht den Schluss daraus ziehen, dass sich die Situation der Kinder verbessert hat“. Denn die Zahl der Sorgerechtsentzüge allein sage wenig darüber aus: „Die Zahl, die für unsere Arbeit eine Rolle spielt, sind die Fallzahlen“ – also die Zahl der Familien, die vom Jugendamt betreut werden. Und die wiederum steigt. Während im gesamten Jahr 2006 508 Kinder in Obhut genommen wurden, waren es bereits im ersten Quartal 2008 174.
Der Rückgang der Sorgerechtsentzüge in Bremen, dessen Jugendämter ähnlich wie die Hamburgs durch den Tod eines misshandelten Kindes nachhaltig in die Kritik gerieten, ist für Kodré möglicherweise auch Anzeichen eines veränderten Elternverhaltens: Wenn diese einer Inobhutnahme durch das Jugendamt zustimmen, entfällt die Notwendigkeit, das Sorgerecht zu entziehen.