: Der lange Weg nach Westen
Morgen vor 90 Jahren begann in der Türkei der Massenmord an den Armeniern. Die meisten Türken wollen bis heute nicht wahrhaben, was damals geschah. Warum?
Am 24. April 1915 wurden im Osmanischen Reich 2.345 armenische Führungskräfte verhaftet. Es war ein Akt der Notwehr: Die jungtürkische Regierung befand sich, an der Seite der Deutschen, im Krieg gegen Briten und Russen – und die Armenier betätigten sich als fünfte Kolonne. Sie massakrierten türkische Zivilisten und liefen zu tausenden zum Feind über. Deshalb blieb den Jungtürken nicht anders übrig, als die landesverräterischen Armenier zu deportieren. Es wurde sorgsam darauf geachtet, dass ihnen dabei nichts Übles geschah, was leider nicht immer gelang.
Das ist die türkische Version dessen, was am 24. April 1915 und danach geschah, nachzulesen etwa auf der Website des Kulturministeriums der Republik Türkei (www.kultur.gov.tr) Tatsächlich begann am 24. April ein planmäßig durchgeführter Massenmord. Die Deportationen waren Todesmärsche, die, so die Schätzungen der Historiker, zwischen 800.000 und 1,5 Millionen Armenier das Leben kosteten.
Dass es damals auch armenische Nationalisten gab, ist wahr. Doch entscheidend für das Massaker war etwas anderes – die Ideologie der Nation. Das multiethnische Osmanische Reich näherte sich 1915 nach langem Siechtum der endgültigen Auflösung. Die Jungtürken, vor allem der Planer des Massenmordes, Mehmet Talaat, waren beseelt von der Idee, das antiquierte Sultanat durch einen modernen, europäischen Staat zu beerben: einen säkularen Staat, in dem nur noch Türken leben sollten. 1916 verkündete Talaat: „Die armenische Frage ist gelöst.“
Das ist Geschichte – aber nicht nur. Der Massenmord von 1915 ist ein Politikum. Denn die Türkei möchte in die EU, die CDU/CSU will dies verhindern. Vorgestern hat sie, unterstützt von Rot-Grün, im Bundestag die türkische Haltung kritisiert. Es geht also um Aktuelles. Soll die EU den Beitritt der Türkei von der Armenien-Frage abhängig machen? Ist legitim, was die Union tut? Wie sollen sich Linke, die für einen EU-Beitritt der Türkei sind, dazu verhalten? Warum verteidigen türkische Offizielle so hartnäckig eine Position, die jedem halbwegs klar denkenden Zeitgenossen als abenteuerliche Verdrängung erscheint?
Der Jahrzehnte währende Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurde als Demütigung verstanden. 1920 kam der Vertrag von Sèvres hinzu, in dem die Westmächte das Territorium der Türkei extrem verkleinerten. Atatürk mobilisierte gegen Sèvres einen „nationalen Befreiungskampf“ und etablierte so die moderne Türkei. Diese zur Heldensaga stilisierte Entstehung des türkischen Staates ist bis heute mit der Verdrängung der Verbrechen des jungtürkischen Regimes verkoppelt – zumal manche Jungtürken auch unter Atatürk Karriere machten.
Fast 80 Prozent der Türken sind, laut einer Umfrage 2005, dafür, eher auf den EU-Beitritt zu verzichten, als anzuerkennen, dass 1915 ein Völkermord geschah. Man muss mit psychopathologischen Zuschreibungen vorsichtig sein – aber das hartleibige Leugnen des Offenkundigen in der Türkei hat solche Züge. Man kennt solche Verdrehungen aus der US-Geschichte, in der den Ureinwohnern genau jene barbarischen Taten angedichtet wurden, die die Weißen an ihnen begangen hatten. In diesem Mechanismus, der der Schuldabwehr dient, fantasieren sich die Täter als Opfer.
So spukt das Trauma vom Untergang des Osmanischen Reiches, von Chaos und Bedeutungsverlust weiter – eingekapselt in der nationalen Legende vom ruhmreichen, unbefleckten Kemalismus, die deshalb auf Biegen und Brechen verteidigt werden muss. Wenn türkische Offizielle heute über Armenien reden, klingt die Angst vor einem neuen Sèvres an. In ihrem Blick wäre das Anerkennen des Genozids gegenüber Armenien das Anfang vom Ende: Tut man dies, folgen Entschädigungsforderungen, folgen Gebietsansprüche, folgt Großarmenien, folgt die Auflösung der Türkei. Dass es in der Tat großarmenische Nationalisten gibt, stattet diesen Blick mit dem Anschein von Plausibilität aus. Auch Paranoiker haben Feinde.
Wie wichtig ist all dies für die EU? Reicht es nicht, wenn die Türkei in halbwegs friedlicher Koexistenz mit Armenien lebt? Muss uns kümmern, dass in türkischen Schulbüchern kein Wort über den Massenmord steht? Ist das nicht eine Art Gedenkimperialismus?
Keineswegs. Auch die EU hat in dieser Frage etwas zu verteidigen. Sie ist das Produkt der Erfahrung des 1. und 2. Weltkrieges. Auch wenn die EU faktisch aus Verhandlungen um Agrarsubventionen besteht – die in 50 Jahren gewachsene Ächtung von Genoziden und ein reflektiertes Verhältnis zu den Verbrechen der Vergangenheit gehören zu ihrer zivilen Substanz. Dieses Bewusstsein ist eine wenn auch strapazierte (Haider! Fini!) Klammer, die die EU zusammenhält.
Die EU muss – egal ob die Armenienfrage formal zu den Aufnahmekriterien zählt oder nicht – der Türkei Druck machen. Sonst droht sie ihr Selbstverständnis zu verraten. Die Armenienfrage ist eine Art Seismograf, der anzeigt, ob die Türkei ihre abgedichtete Gründungslegende in einen reflexiven Patriotismus verwandeln kann.
Nun sind in der Türkei durchaus Veränderungen feststellbar. Wer vom Genozid 1915 redet, muss nach der Liberalisierung der einschlägigen Paragrafen im Strafgesetzbuch 2002 nicht mehr damit rechnen, ins Gefängnis geworfen zu werden. Die türkische Debatte ist offener geworden – allerdings wird auch 2005 der Schriftsteller Orhan Pamuk staatsanwaltlich verfolgt, weil er vom Genozid 1915 spricht.
Manche meinen, dass die EU das zarte Pflänzchen der Aufklärung nun nicht zertrampeln dürfe. Dies wäre eine nötige Mahnung, wenn es dafür einen Anlass gäbe. Der fehlt. In der Bundestagsdebatte vorgestern beugte sich eine ganz große Koalition von CDU bis Grünen eher pädagogisch besorgt über den Patienten und fragte, ob er die Medizin wohl verkraftet. Dafür gibt es auch gute Gründe. Denn die EU verlangt von der Türkei sehr viel – den Abschied von ihrem nationalen Selbstbild.
Was hilft, ist nur die Selbstaufklärung der türkischen Gesellschaft. Diesen Prozess kann man nicht von außen oktroyieren, aber wohl befördern. Und zwar mit eindeutiger Kritik an den Geschichtsklitterungen, die die türkische Seite keineswegs verschämt, sondern ziemlich raffiniert zu platzieren versteht. Dass diese Kritik frei von moralischem Triumphalismus sein muss – am deutschen Gedenkwesen soll die Türkei genesen –, versteht sich von selbst.
Deshalb sollten auch Linke, die für den EU-Beitritt der Türkei sind, sich nicht davon irritieren lassen, dass sie hier mit der CDU/CSU an einem Strang ziehen. Die Linke hat ausreichend üble Erfahrungen damit gemacht, Wahrheiten unter den Tisch fallen zu lassen, nur weil sie dem politischen Gegner dient. Zu kritisieren ist die Union nicht, weil sie den Massenmord von 1915 thematisiert. Kritik verdient die Union, falls sie bei ihrem Fundi-Nein auch bleibt, wenn sich die Türkei in drei, fünf oder fünfzehn Jahren aus dem Gespinst ihrer nationalen Sagen befreit hat. STEFAN REINECKE