Der Doktor und der schnelle Tod

„Ich habe geschworen, die Insel nicht zu verlassen, bis alle Kidnapper gefangen oder getötet sind“„Das spart Gerichts- und Gefängniskosten,“ sagt er, als 22 Abu-Sayyaf-Leute erschossen werden

AUS ISABELA SVEN HANSEN

Er ist keine 1,60 Meter groß und inzwischen 67 Jahre alt. Seine Stimme ist sanft, und als Arzt hilft er anderen. Doch wer den adrett gekleideten Doktor Nilo Barandino nur für gutmütig hält, täuscht sich. „Ich habe geschworen, die Insel Basilan nicht eher zu verlassen, als bis alle Kidnapper meiner Familie gefangen oder getötet sind“, sagt der Arzt in Isabela, der Hauptstadt der südphilippinischen Insel Basilan. 16 seiner 24 Entführer sind inzwischen tot, drei im Gefängnis.

Auf der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Insel voller Dschungel und Plantagen entstand 1991 die islamistische Rebellengruppe Abu Sayyaf. Sie macht mit Entführungen und Bomben von sich reden. Barandino, seine Frau, acht ihrer Kinder und ein Neffe zählten 1992 zu den ersten Entführungsopfern. „Wir wurden am 27. November auf dem Weg zu unserer Farm überfallen,“ erzählt er. Dabei war er bewaffnet, denn als wohlhabender Christ chinesischer Abstammung hatte er schon vier Anschläge überlebt. „Ich griff zu meinem Gewehr und wollte schießen, als ich sah, wie die Kidnapper schon zwei meiner Kinder bedrohten. Da konnte ich nichts mehr machen.“

Die Familie wurde in ein Dschungelversteck verschleppt. Ein mit Barandino befreundeter Führer der muslimischen Rebellenbewegung MNLF, von der sich Abu Sayyaf abgespalten hatte, wollte die Familie befreien. „Er besuchte uns und seine Exgefährten im Dschungel. Auf ein Zeichen hin sollten wir uns auf den Boden werfen, damit seine Männer die Entführer erschießen konnten.“ Doch Verständigungsprobleme ließen den Plan scheitern. So konnte der Kommandant nur Barandinos Freilassung erwirken, der dann das Lösegeld für den Rest der Familie auftreiben musste.

Barandino nahm eine Hypothek auf die Farm auf. Die Lösegeldsumme will er nicht nennen. Das treibe nur die Preise hoch. Als seine Familie schließlich nach 25 Tagen frei war, wurde Barandino zum Jäger, wenn nicht gar zu einer Ein-Mann-Todesschwadron. Er erwirkte einen Haftbefehl gegen die Geiselnehmer und begann mit täglichem Fitnesstraining, um sie fangen zu können.

Barandino wusste, wer seine Peiniger waren. Als Chef der Klinik von Basilans größtem Krankenhaus hat er nicht nur einen medizinisch geschulten Blick für Körpermerkmale, sondern auch schon viele der 300.000 Insulaner behandelt. Einen der Geiselnehmer erkannte er schon während der Entführung. Der packte aus, um sich zu retten.

Mit der Präzision eines Chirurgen erstellte Barandino Dossiers über die Mitglieder der Gruppe in Basilan und ihre Opfer. Seine Statistik listet allein von 1992 bis 2001 452 Opfer auf, darunter 183 von Entführungen. 70 kamen nach Lösegeldzahlungen frei, 56 wurden ohne Geld freigelassen. 183 Opfer starben, 50 davon durch Enthauptungen.

Dem Militär traute Barandino seine Dossiers nicht an. Wie viele Einheimische glaubt auch er, dass einzelne Soldaten mit Entführern unter einer Decke stecken. Ohnehin ist er sehr misstrauisch. Deshalb hat er auch keinen Leibwächter. „Das ist nur ein unnötiger Zeuge. Nachher erpresst er mich noch“, sagt Barandino und deutet damit an, dass er seine Entführer auch jenseits der Legalität jagt. Er wird wortkarg, wenn er von einer geheimen Gruppe von Abu-Sayyaf-Opfern spricht, die mutmaßliche Entführer töten. Barandino will sich nicht klar äußern, ob er selbst zur Gruppe gehört, zumindest arbeitet er mit ihr zusammen. „Wir legten uns nachts auf die Lauer und haben die Kidnapper erwischt,“ sagt er schließlich. Einfach erschossen? Nein, sagt er, es waren „offene Kämpfe“ – „Mann gegen Mann“. Barandino zögert. Einige wurden „auf der Flucht erschossen“, sagt er dann. Weil vier seiner Entführer so endeten, trauten sich andere Abu-Sayyaf-Mitglieder nicht mehr in die Stadt.

Der Haftbefehl erlaubt ihm, diesen selbst zu vollstrecken. Da sein Haus an einer Brücke liegt, die jeder passieren muss, der ins Zentrum von Isabela will, beobachtete er hier vier Jahre lang intensiv den Verkehr. „Sah ich einen der Gesuchten, hielt ich ein Tricycle an und nahm die Verfolgung auf.“ Tricycles sind überdachte Motorräder mit Beiwagen und dienen als Taxis. „Sie fallen nicht auf. So konnte ich mich den Entführern unbemerkt nähern, zog meine Waffe und habe sie verhaftet.“ Drei Entführer übergab er so dem Militär.

Dem diente er sich auch als Führer an und spürte in Mangrovensümpfen und Wäldern seine Kidnapper auf. Einmal ließ er eigens Spezialkräfte aus Manila einfliegen. Mit denen nahm er Jul Jillang fest, den Chef seiner Kidnapper. Als Barandino ihn identifizieren sollte, meldete die Nachrichtenagentur Reuters, habe er versucht, Jillang umzubringen. Soldaten konnten das verhindern. Darauf angesprochen nennt er den Reuters-Korrespondenten einen Lügner.

Barandino räumt ein, vier Abu-Sayyaf-Mitglieder erschossen zu haben, und erzählt dies, als sei es Routine. Zufällig sei er in der Nähe gewesen, als ein chinesischstämmiger Händler entführt wurde. Zwei Soldaten hätten die vier Kidnapper stoppen wollen, doch die Munition war schnell verschossen. So habe Barandino die vier kurzerhand mit seinem Schnellfeuergewehr getötet.

Einmal wollte ihm Abu Sayyaf einen Mord anhängen. Doch gab es keinen Totenschein. So fehlte der amtliche Nachweis. Nach eigenen Angaben ist Barandino der einzige Arzt, der in Basilan in Mordfällen Totenscheine ausstellt. Die anderen Ärzte hätten davor Angst. So identifizierte Barandino 1998 auch die Leiche von Abu-Sayyaf-Gründer Abdurajak Janjalani. Den kannte er noch aus seiner Jugend.

Drei Entführer brachte Barandino vor Gericht. Sie erhielten Gefängnisstrafen von je 440 Jahren. Als sich das abzeichnete, bat Basilans Bischof Barandino um Milde. Als Katholik solle er keine Rache nehmen. „Ich habe ihm gesagt, es geht um Gerechtigkeit. Wenn diese Männer Gnade erfahren, werden die Entführungen nur noch schlimmer.“

Barandino erzählt ruhig und gelassen von der Jagd auf seine Entführer. Nie schaut er sich während des Gesprächs auf der Veranda einer Hilfsorganisation ängstlich um oder macht gar den Eindruck eines selbst Gejagten. Basilan, das in den Philippinen als Kidnapping-Insel gilt und wo Waffen und Gewalt zum Alltag gehören, sei heute viel sicherer als früher, behauptet er. Zu seinem Schutz trägt er jetzt nur noch eine Pistole, Kaliber 45. Barandino glaubt, auch noch die restlichen seiner Entführer zu erwischen. Die verstecken sich im Dschungel. Auf einen ist eine Belohnung von einer Million Peso ausgesetzt, umgerechnet 14.000 Euro. Das würde einen Teil seiner Verluste entschädigen, hofft Barandino. Längst hat er seine Farm verloren, weil er die Hypothek nicht zurückzahlen konnte.

Ohnehin sieht er den Kampf gegen Abu Sayyaf erschreckend ökonomisch. Als Mitte März bei einem Gefängnisaufstand bei Manila 22 mutmaßliche Abu-Sayyaf-Mitglieder erschossen wurden, sagt er trocken: „Das spart Gerichts- und Gefängniskosten.“ Da die meisten Getöteten schuldig seien, sei es richtig, sie einfach zu töten.

„Barandinos Gerechtigkeitssinn entspricht der Mentalität der meisten Christen in Basilan,“ meint der Claretiner-Missionar Angel Calvo. „Er ist nicht verrückt.“ Der spanische Missionar hat über zwanzig Jahre in Isabela gelebt und dort die renommierteste Schule geleitet. Er sagt, Barandino kümmere sich sehr um seine Familie und sei kein Fanatiker. Calvo teilt Barandinos Methoden nicht, doch spricht er mit viel Respekt von ihm. Angel Calvo zog als letzter weißer Ausländer von Basilan weg, als dort in den 90-er Jahren Entführungen der Abu Sayyaf zunahmen. Einige Rebellen waren früher Calvos Schüler, später musste er selbst über die Freilassung eines entführten Priesters verhandeln.

Eine Journalistin, die ihren Namen nicht nennen will, sagt über Barandino, er agiere aus dem Gefühl moralischer Überlegenheit. Er fühle sich von Muslimen um Frieden und Sicherheit gebracht und vom Staat im Stich gelassen, wobei sein Wohlstand ihm erlaube, sich auf seine Art zu wehren. „Sein Vorgehen ist falsch, aber ein Stück weit verständlich. Langfristig ist es kontraproduktiv.“

Barandinos Familie blieb von den Folgen seiner Jagd nicht verschont. Nach der Entführung hatte er seine Kinder vorsorglich von der Schule genommen und ihnen verboten, das Haus zu verlassen. „Ein Jahr später wurde mein 19-jähriger Sohn Marvin unter einem Vorwand auf den Markt gelockt und von Abu Sayyaf erschossen“, sagt Barandino bitter. Ein Teil seiner Familie lebt heute nicht mehr in Basilan. Wer woanders einen Job finden konnte, hat die Insel verlassen.