„Alle paar Jahre kracht’s bei uns“

SOZIS Der frühere SPD-Kanzlerkandidat Björn Engholm über Feindschaft und Streit, Twittern und Weißburgunder, Erreichbarkeit und die kleinen Fluchten eines Politikers

Der Einsteiger: Geboren am 9. November 1939 in Lübeck. Lernt Schriftsetzer, macht Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, schließt in Hamburg als Diplompolitologe ab. 1965 heiratet er, seine Frau Barbara bekommt 1966 die erste, 1969 die zweite Tochter. 1969 zieht er in den Bundestag ein – mit 29 Jahren.

Der Hoffnungsträger: 1977 Staatssekretär, 1981 Bundesbildungsminister unter Helmut Schmidt. 1983 Wechsel in die schleswig-holsteinische Landespolitik, wo er die Jahrzehnte dauernde CDU-Herrschaft brechen will. 1987 tritt er gegen Ministerpräsident Uwe Barschel an. Kurz vor der Wahl berichtet der Spiegel von „Barschels schmutzigen Tricks“, denn sein Medienreferent hatte Engholm bespitzeln lassen und verleumdet. Barschel muss zurücktreten. Sechs Tage später wird er in einem Genfer Hotelzimmer in der Badewanne tot gefunden. Bei Neuwahlen 1988 gewinnt die SPD, Engholm wird Ministerpräsident. Die SPD setzt große Hoffnungen in ihn. 1991 wird er Bundesvorsitzender, 1992 Kanzlerkandidat.

Der Aussteiger: 1993 Rücktritt von allen Spitzenämtern, nachdem er zugeben musste, vor dem Barschel-Untersuchungsausschuss 1987 gelogen zu haben: Er war früher über die Machenschaften gegen ihn informiert, als er behauptet hatte. Danach Pensionär, Vortragsreisender, Berater von Kunstausstellungen und Hobbywinzer.

INTERVIEW GEORG LÖWISCH

taz: Herr Engholm, seit die Koalition in Ihrer Heimat Schleswig-Holstein geplatzt ist, wird über die Geschichte des Landes geredet. Die Namen Barschel und Engholm fallen in einem Atemzug. Wie geht es Ihnen damit?

Björn Engholm: Das trifft mich. Das trifft mich.

Warum?

Es ärgert mich zu Tode, weil es überhaupt nicht vergleichbar ist mit dem, was da heute stattfindet.

1987 wurden Sie von einem Referenten des CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel bespitzelt und verleumdet.

Ich bin bei ihm [gemeint ist Barschel, Engholm nennt ihn während des Gesprächs nie namentlich, d. Red.] auf einen Menschen gestoßen, der nicht in die Politik gehört hat. Der da aber Karriere gemacht hat, weil sie ihn gewähren ließen. Ich bin auf einen gestoßen, der unter ethischen Gesichtspunkten nicht zur zivilisierten Polis gehört hat. Er war einer, der uns Sozialdemokraten zu Feinden gemacht hat. Das ist heute anders, hoffe ich jedenfalls sehr.

Barschel trat zurück und wurde kurz darauf tot aufgefunden. Später gab es noch mal einen Untersuchungsausschuss. Es ging auch um die Frage, wann Sie von den schmutzigen Tricks gegen Ihre Person erfuhren.

Dass ich da mit reingerutscht bin wegen einer in der Sache nicht bedeutenden, aber vom Verfahren her bedeutenden Unwahrheit, ist scheiße. Aber auch dazu muss man stehen.

Als klar wurde, dass Sie gelogen hatten, traten Sie zurück. Müsste einer wegen derselben Lüge heute zurücktreten?

Müsste, aber kein Mensch tritt zurück. Für mich war das wichtig. Eine Befriedung. Mein halbwegs ordentliches Ansehen hängt damit zusammen. Es ist ja nicht leicht, nach 25 Jahren als Abgeordneter, Staatssekretär, Minister und Ministerpräsident die Flappen hinzuschmeißen. Aber es war nötig. Deshalb ärgere ich mich, wie heute über die Sache gesprochen wird.

Dass Sie heute ein Synonym für die ganze Affäre sind – genau wie Barschel?

Das tut nicht gut. Der war nicht mein Leben. Wir lebten in verschiedenen Welten.

Was haben Sie gemacht, nachdem Sie 1993 als Ministerpräsident und SPD-Kanzlerkandidat zurückgetreten waren?

Ich hab mich noch ein Jahr mit dem Untersuchungsausschuss rumgeschlagen. Wenn man mal weg ist von der Spitze, dann wissen auch die in der eigenen Partei: Mit ihm gehen zwölf weitere. Und das bietet eine Chance für die anderen, die dann aufsteigen. Es gibt ihnen einen seltsamen Elan, den am Boden noch mal ordentlich zu treten. Das hab ich kraftvoll erlebt. Dann freut man sich mit denen, die einem die Stange halten. Gottlob waren das nicht wenige, auch Freunde jenseits des politischen Geschäfts. Künstler und solche.

Die haben Sie aufgefangen?

Sie haben gesagt: „Komm, jetzt hast du mehr Zeit. Eröffne meine Ausstellung, halt ne Rede, mach ein Seminar.“ Diesen Freunden habe ich viel zu verdanken, viele kamen aus bürgerlichen Kreisen. Die Partei hat sich in der Zeit um mich nicht gekümmert. Weg ist weg. Die auf Parteitagen beschworene Solidarität der Sozis – in praxi hab ich sie vermisst.

Was hat Ihr Leben ausgefüllt?

Ich habe Artikel geschrieben. Kunstbeiträge, Reden. Ich habe Vorträge in Österreich gehalten, es ging um politische Theorie. Dann kamen die Litauer, die machten gerade ein neues Parlament auf. Sie wollten wissen, wie man Mitarbeiter aussucht, welche technischen Geräte man braucht, was man verdienen kann, das Einmaleins des Parlamentarismus lernen.

Wovon haben Sie gelebt?

Es gibt Übergangsgelder. Und dann hab ich mit Ende fünfzig Pensionsanspruch gehabt. Ich war ja fast 25 Jahre in der Politik.

Wie sehr haben Sie sich danach von der Politik entfernt?

Ein politischer Mensch bin ich geblieben. Ich habe mich nur von der Partei entfernt. Ich bin und bleibe Mitglied, klar. Ich kontrolliere in einer Gesellschaft das Parteivermögen mit. Aber ansonsten halte ich mich zurück. Besserwisserei aus dem Off, wie Clement, hilft keinem.

Obwohl Sie gebeten werden, sich zu engagieren?

Je weiter die Affäre zurückliegt und je schlechter die Zeiten für die Partei werden, desto mehr kommen sie ja wieder.

Klingt bitter.

Ach, ich bin nie Parteimensch gewesen. Ich war Parlamentarier mit Leib und Seele. Ich bin auch gerne Minister gewesen und Ministerpräsident. Der einzige Fehler, den ich je gemacht habe, war, 1991 diesen Parteivorsitz anzutreten.

Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Es war nicht meine Welt. Schröder war noch nicht so weit. Lafontaine konnte zu dem Zeitpunkt nicht. Und Vogel hat mich da hingetragen. Das hätte ich niemals machen sollen.

Warum?

Weil Parteivorsitz automatisch Kanzlerkandidat bedeutete. Damit bin ich erst richtig tief in Abgründe und Querelen reingerutscht. Als Landeschef da oben im Norden hat mich die gegnerische Szene nicht richtig ernst genommen. Aber als Kanzlerkandidat war ich ein schönes Ziel, auf das es sich lohnte zu schießen.

Wie erfahren Sie heute, wenn in Kiel die Koalition platzt, wenn Minister entlassen und Neuwahlen ausgerufen werden?

Im Regelfall aus Rundfunk und Fernsehen. Mit einem bisschen Glück ruft mich Ralf Stegner an. Er ist einer von denen, die mich gelegentlich nach meiner Meinung fragen.

Aber Sie mischen nicht mit?

Nein. Ich habe ein anderes Leben. Das ist mir gut bekommen. Ich wollte nie mehr zurück in die Szene.

Auf dem Tisch vor Ihnen liegt ein Handy. Angela Merkel macht SMS-Politik zu jeder Tages- und Nachtzeit. Könnten Sie sich das vorstellen?

Nein. Man konnte schon in den Neunzigern jede Menge Unsinnigkeiten per Handy erledigen. Es war nicht mein Ding. Ich wollte ein Stück Nichterreichbarkeit bewahren, und das hat uns über die vielen schweren Jahre getragen. Dass wir nicht dauernd verdrahtet waren. Jede Stunde, jede Minute, jede Sekunde. Nur die Leute in der Kneipe wussten: Heute hat er einen zu viel getrunken. Aber die anderen nicht.

Sie wollten sich einen Alltag außerhalb der Politik erhalten?

Ich wollte nicht diese Totalerreichbarkeit, diese simulierte Omnipräsenz, die schon damals im Kommen war. Ich fand das schöner. Es war ästhetischer, ließ einem kleine Freiräume.

Ralf Stegner twittert ja.

Ich nicht. Ich lass auch das Handy gern zu Hause. Wenn ich heute mit dem Zug reise, sitzen im Großraumabteil zwanzig Leute und hacken in ihre Computer. Daneben liegt ein – wie heißt das Ding? – Blueberry.

Blackberry.

Genau. Manche haben Headphones obendrauf. Es gibt Leute, die voller Dramatik über die Börse reden. Die andere Leute anbrüllen: „Da müssen wir ihn halt entlassen!“ Und ich bin der einzige, der Wein trinkt.

und dann beobachten Sie.

Ich sehe, wie gestresst die Nachbarn sind. Sie machen’s ja nicht wirklich gerne, sie sind Teil einer Maschinerie. Sie verlagern ihre Tätigkeit bis in die Freizeit. Ein Konkurrenzkampf, der nicht aufhört. Manchmal überzeuge ich einen Mitreisenden, die Headphones abzunehmen, das Ding zuzuklappen und einen anständigen Weißburgunder zu trinken. Dann blühen diese Leute auf. Sie werden persönlich.

Herr Engholm, warum kracht es in Schleswig-Holstein immer wieder so heftig?

Vielleicht trügt der Schein. Wir haben jetzt ein paar Jahre etwas langweiliger, aber nicht völlig erfolgloser großer Koalition hinter uns. Im Schulwesen ist zum ersten Mal so etwas wie Frieden eingekehrt. Die waren auf dem Weg, eine kleine Schneise weg von der Atomenergie zu schlagen. Das wird jetzt kaputtgehen. Ich finde, im Norden sind wir nicht so sehr anders, außer dass wir alle paar Jahre mal ne Krise haben: Dann trifft rural-autokratische auf urban-linksliberale Mentalität. Carstensen auf Stegner etwa. Und dann kracht’s.

1988 wollten Sie die Politik in Ihrem Land weiblicher machen. Sie holten vier Frauen ins Kabinett, darunter Gisela Böhrk als erste deutsche Frauenministerin und Heide Simonis als Finanzministerin. Läuft jetzt in Kiel wieder eine uralte Macho-Nummer?

Die SPD im Norden hat das Thema Frauen dank Gisela Böhrk verinnerlicht. Da gibt es kein Zurück. Wenn Kubicki von der FDP und Carstensen das Rennen machen, was ich nicht hoffe, sieht’s anders aus. Dann ersetzt Alibi die Gleichstellung.

Geht es in Schleswig-Holsteins Politik härter zu?

Als ich in Schleswig-Holstein ’82 antrat, kam ich aus ’ner heilen Welt. Ich war Abgeordneter und Minister in Bonn, das war eine geordnete Koalition mit Schmidt und Scheel gewesen, ebenso sozial wie liberal.

Und in Kiel?

Die CDU in Schleswig-Holstein war durch fast vier Jahrzehnte Alleinmacht verwöhnt. Als ich ankam, konnte man in Teile des Landes als Sozialdemokrat nicht gehen. Man konnte nicht auf eine Bauernversammlung gehen und nicht auf den Unternehmerkongress. Nur Kiel, Lübeck und Flensburg waren ein bisschen anders. Aber Schleswig-Holstein ist ländlich, und ich hab da fünf Jahre geackert wie ein Verrückter, um den Leuten klarzumachen: Sozialdemokraten haben auch eine Frau, Kinder und einen Beruf, können mit Messer und Gabel essen und hören Musik.

Hat Ihnen das Ackern gefallen?

Ich mag Menschen. Ich mochte auch die Bauern, die auf meiner ersten großen Versammlung waren. Ich habe mich abgestrampelt. Zwei Stunden. Man gibt das Beste, was man je gegeben hat, man ist schweißüberströmt. Und niemand klatscht. Kein Finger rührt sich. Hinterher an der Theke kommt einer und sagt: „Det wör man nich so schlecht min Jung.“ Solche Leute mag ich. Ich mag es nur nicht, wenn Streit zur Fehde wird. Wenn man Feind wird.

Wie bei Barschel?

Ja.

Ist es nicht anders geworden, wo die SPD seit 1988 in der Regierung sitzt?

Schon, aber es werden jetzt Erinnerungen geweckt an die schlechten Zeiten, die wir da oben gehabt haben. Ich sehe in den Medien, wie ein Bild des SPD-Landesvorsitzenden gezeichnet wird. Die Schleswig-Holsteinische Landeszeitung und die Lübecker Nachrichten, die malen Ralf Stegner als Kotzbrocken, weil sie nicht mehr gewohnt sind, dass Leute sogar ihre Meinung sagen. Und das mit Schärfe. Sie wollen Glätte. Und die hat Stegner nicht.

Er kämpft gegen sein sprechendes Gesicht.

Ich würde eine andere Visage machen, wenn ich auftrete. Ich würde wahrscheinlich auch andere Vokabeln benutzen. Aber dieser Mann hat Linie und klare Perspektiven. Das sagt er den Leuten, mitunter unverblümt. Scharf. Was ist daran falsch? Soll er sich verstellen? Das tut mir weh, wenn er dann runtergeschrieben wird. Zumal er doch besitzt, was ich immer vermisse: politisches Profil.

Soll Stegner nun an seinem Auftreten arbeiten oder nicht?

Er soll bleiben, wie er ist. Nur von Zeit zu Zeit ein kleines Lächeln mehr. Von Zeit zu Zeit die Wut auf unseren Landesteddy Carstensen ein bisschen runterschlucken. Sagen: „Ich höre Ihnen gerne zu, ich wäge Ihre Argumente. Aber ich teile sie in nicht.“ Stegner sagt: „Falsch. Zack. Tack.“ Das mögen viele im Lande Schleswig-Holstein nicht. Das kann man lernen.

Ihnen hat gutes Aussehen immer geholfen: Gut angezogen, gemütliche Pfeife …

Stegner kleidet sich gut, er ist gut gekämmt. Immer.

Sie hätten auch Kurzarmhemden getragen?

Ne, das hätte ich wirklich nicht gemacht. Das ist aber eine persönliche Stilfrage.

Wie wichtig ist denn Aussehen in der Politik?

Ordentlich aussehen ist nicht hinderlich. Es reicht aber alleine nicht. Es gibt neben dem Aussehen noch etwas: Charisma. Brandt hat davon ganz viel gehabt. Er war ja kein Schönling. Helmut Schmidt hat auch nicht adonisch ausgesehen, aber eben ein Hanseat mit mächtig Aura.

Wie bekamen Brandt und Schmidt Aura?

Vielleicht nur durch Geschichte, durch dieses Erleben von geschichtlichen Extremsituationen, die Lehren daraus, den Schmerz, die Scham. Das verleiht eben eine gewisse Aura. Die habe ich in dem Maße auch nicht gehabt, und Stegner kann sie nicht haben. Die kann man sich nicht eben mal zulegen.

Man kann nur ackern und ackern.

Man kann Ralf Stegner empfehlen, das mit dem Ackern in Grenzen zu halten. Und das Akademische ins Sinnliche zu übersetzen.

Das heißt: Weißburgunder statt Twitter?

Nicht zehn Termine am Tag machen, sondern vier. Auch wenn da nur zwanzig Leute sitzen. Mit denen eine Stunde verbringen. Nicht: Der nächste Termin, der nächste Termin. Zwanzig Leute zu haben, die sagen: „Mit dem habe ich mal richtig die Meinungen wetzen können.“ Das ist viel. Das sind Multiplikatoren. Und gelegentlich einen Ausklönen und abends – was Willy Brandt früher gemacht hat – ne Runde Skat spielen. Einem, der unter Stress steht, tut das gut. Is so.

Wie sehr hat sich die SPD inzwischen von Ihnen entfernt?

Es ist eine andere Generation. Darüber kann ich auch nicht rechten. Wir waren damals ein ganzer Pulk Gleichaltriger, die ’69 ins Parlament kamen. Wir waren nicht mehr die Straßenkämpfer. Aber wir wollten die Welt verändern. Das kam durch unsere Ausbildung, zweiter Bildungsweg, Lehre, Hochschule. 80 Prozent unserer Zeit haben wir damals darin investiert, dass diese Welt anders wird. Und 20 Prozent war: Wer kommt wohin? Wer wird wo Ausschussvorsitzender? Das Verhältnis darf sich nicht umkehren in der SPD, nach dem Motto: 80 Prozent für Karriere, 20 Prozent für die Welt.

„Es gibt einen seltsamen Elan, den am Boden noch mal ordentlich zu treten. Das hab ich kraftvoll erlebt“

Denken Sie im Ernst, dass die damaligen Spitzen-Sozialdemokraten so anders waren?

Ich war in 1986 auf einer Fernostreise in Vietnam. Eines Morgens bin ich von einer Limousine mit verdeckten Fenstern abgeholt worden. So DDR-mäßig. In einem Haus am Stadtrand hat mich ein junger Mann in Khakihosen angesprochen. Hun Sen, der heute noch Ministerpräsident von Kambodscha ist. Der gibt mir eine Botschaft auf den Weg, dass man für die ganze Region einen weltbekannten Vermittler braucht. Ich sage: „An wen denken Sie?“ Und er: „Willy Brandt. Oder Olof Palme. Oder Bruno Kreisky.“ Und dann sitzt du da am Ende der Welt in einem damals völlig verschlossenen Land, und einer sagt: „Wir brauchen einen von deinen drei Lieblingsleuten.“

Was wollen Sie mit der Anekdote sagen?

Wenn ich mir vorstelle, ich säße heute in derselben Situation. Welchen Namen würde er nennen? Von den heutigen? Fällt Ihnen einer ein?

Steinmeier?

Wir können die Kette mal durchgehen. Von Merkel und Westerwelle ganz zu schweigen.

Wer übernahm damals den Job?

Keiner. Willy war schon zu weit raus, und Fernost war nicht seine Leidenschaft. Bruno Kreisky war schon zu alt, und Olof kam ums Leben. Aber dass man drei Sozialdemokraten aus dem Zentrum Europas genannt bekommt, heißt: Hier haben drei eine Aura entwickelt, die heute fehlt. Sie sind perfekt, technisch, pragmatisch. Aber was den Leuten Mut machen könnte, wohin zu marschieren, das ist heute rar.

Wie links vom SPD-Mainstream stehen Sie?

Heute? Ich weiß nicht. Damals war ich mittlere Linke. Ich war immer Marktwirtschaftler und habe nie geglaubt, dass es einen anderen Weg gibt. Ich war gegen Neokapitalismus und bin’s noch.

Hat nicht die SPD diesen Neokapitalismus mitgemacht? Unter Kanzler Schröder und Finanzminister Eichel wurden die Finanzmärkte dereguliert.

Das kann man nicht leugnen. Da wurden Fehler gemacht. Auch in der Sozialpolitik.

Ist die SPD mit sich im Rei- nen?

Sie kann sich von dieser Vergangenheit nicht völlig trennen, denn sie hat das gemacht. Einiges war in der Zeit des weltwirtschaftlichen Umbruchs unvermeidbar. Aber wie wir es gemacht haben? Verlustvorträge in riesigen Größenordnungen, Zulassung anonymer Finanzfonds, Hartz IV. Einmal kam ein alter Werftarbeiter in Lübeck zu mir nach Hause. Er sagt: „Ich bin ab morgen Hartz IV.“ Der hat früher Gastanker gebaut. Dem hat man seine Würde geklaut. Da muss vieles nachgearbeitet werden, und ein Teil des Vertrauens ist wahrscheinlich perdu.

Ist die SPD nicht ein guter Spiegel der Gesellschaft: unentschlossen, aufgerieben, zukunftsängstlich?

Ja. Man könnte sagen: Deutschland im Spätherbst, die SPD im Spätherbst. Aber dann bräuchten wir auch mal ein bisschen Frühling. Dafür wäre mehr von der SPD nötig, die Brandt hervorgebracht hat. Oder Helmut Schmidt.

Was heißt das?

Klare Ziele, vielleicht realisierbare Utopien. Und die Leute müssen wissen: Das gilt mindestens zwei oder drei Jahre lang. Mit großen Koalitionen ist das natürlich schwer.

Dass alles personalisiert ist, sehen Sie nicht als Problem – es sind nur zu schwache Personen?

Ich sehe zu wenige, die von der ganzen Partei getragen werden. Wo auch ein großer Teil der Bevölkerung sagt: Auf die kannste dich verlassen. Man muss ein klares Ziel haben. Das kann auch weit entfernt sein. Ich vermisse, dass jemand sagt: „Zehn Jahre wird’s dauern, aber wir kommen da hin.“ Die machen ja gute Arbeit in den Parlamenten. Aber das steht zu zusammenhanglos nebeneinander. Was ist das Ziel? Wo geht’s hin? Man muss einem Gesetz ansehen können: Das ist eine Etappe auf dem Weg zu einem großen Ziel.

Wie geht es weiter in Kiel?

Tja, es läuft gerade auf Schwarz-Gelb hinaus. Aber das kann sich ändern. Wenn der Ministerpräsident sich weiter so verhält, wird er Dellen bekommen. Vielleicht reicht es dann nicht und er sitzt ein, zwei Mandate unter der Mehrheit. Dann wird’s wieder spannend.

Wie werden Sie den Wahlabend erleben?

Vor dem Fernseher.

Weißburgunder?

Da bei mir nix mit Toskana ist, steht mir Weißburgunder zu. Wir haben in Lübeck einen kleinen Stammtisch, einen Weintrinkerkreis. Da klönen wir. Konservative, Linke. Da zeigen wir, dass es auch anders geht. Mit drei, vier von denen werde ich wahrscheinlich gucken. Kommentare der Wut. Oder der Lust. Fossiles Aufbäumen. Wer weiß, was passiert?

■ Georg Löwisch, Jahrgang 1974, leitet das sonntaz-Ressort. Im Zug setzt er gewöhnlich Headphones auf – und schläft ein