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Archiv-Artikel

Im Zweifel Fischers Verantwortung

Nicht der Volmer-Erlass, sondern zwei andere Weisungen des Außenministeriums haben der Schleuserkriminalität Tür und Tor geöffnet

BERLIN taz ■ Zeuge Ludger Volmer war sich erstaunlich sicher. Der nach ihm benannte Erlass für eine neue Visapolitik der rot-grünen Bundesregierung „ist nicht ursächlich verantwortlich für die Schleuserkriminalität“, sagte der Exstaatsminister im Auswärtigen Amt im Visa-Untersuchungsausschuss. So falsch lag Volmer da nicht. Das Papier vom 3. März 2000 ist eher ein allgemeines politisches Dokument. Seine wesentlichen operativen Anweisungen für die Visaerteilung zitiert es nur – aus zwei anderen Erlassen.

Diese beiden Weisungen, bereits ein halbes Jahr vor dem spektakulären „In dubio pro libertate“-Erlass herausgegeben, brachten die eigentlich durchschlagende Änderung der konkreten Visapolitik. Für die beiden Erlasse vom 2. September und dem 15. Oktober 1999 mag freilich niemand verantwortlich sein. Weder Ludger Volmer („Damit war ich nicht befasst“) noch der heutige UN-Botschafter Gunter Pleuger („Kenne ich nicht“). Selbst die beiden administrativ Zuständigen im Auswärtigen Amt (AA), Roland Lohkamp und Gerhard Westdickenberg, wussten im Ausschuss genau, dass sie sich an diese Erlasse „nicht erinnern“. Merkwürdig. Denn das sprunghafte Anwachsen von Visazahlen und Visamissbrauch lässt sich auf diese beiden Erlasse zurückführen.

Am wirkungsvollsten im täglichen Visageschäft war der Oktobererlass von 1999: Er wertete die Reiseschutzversicherungen des ADAC erheblich auf. Legte ein Tourist ein Carnet de Touriste (CdT) vor, sollten die Auslandsvertretungen künftig „in der Regel auf die Vorlage von weiteren Unterlagen zum Zwecke der Reise, zur Finanzierung sowie im Regelfall auf weitere Nachweise zur Rückkehrbereitschaft verzichten“.

Diese Formel hatte einen fulminanten Effekt. Die Zahl der CdT-Visa stieg sprunghaft an – genau wie der Missbrauch. Schon im Januar 2000, also Wochen, bevor der Volmer-Erlass das Licht der Diplomatenwelt erblickte, konstatierte der Bundesgrenzschutz: Die Abschiebungen von CdT-Touristen schnellen in die Höhe; 70 Prozent der Ukrainer, die über den Flughafen Schönefeld ausgewiesen wurden, seien mit CdT eingereist.

Die beteiligten Botschaften erkannten damals sehr schnell das Problem: Das CdT sei „ein geradezu ideales mittel zur verschleierung von reiseziel und reisezweck“, so lautet bereits im Mai 2000 ein übereinstimmendes Resümee diverser Auslandsvertretungen, „da die reiseerleichterungen auf einer einschraenkung der pruefungsmoeglichkeiten der botschaft beruhen.“ Fischers Haus war also früh gewarnt. Was aber geschah? Warnungen und Hilferufe der Botschaften wurden nicht nur ignoriert. Berlin untersagte seinen Außenstellen sogar, dem Visamissbrauch mit den Carnets entgegenzutreten. Es dauerte bis zum Jahr 2003, ehe Joschka Fischer einschritt – originellerweise mit genau jenen Begründungen, die die Botschafter seinem Amt bereits zum Jahreswechsel 1999/2000 frei Haus geliefert hatten.

In der Zwischenzeit freilich hatten professionelle Schleuserbanden die Indolenz des AA nutzen können. Sie bemächtigten sich der Vergabe des dem Carnet ähnlichen „Reiseschutzpasses“. Sie lockten und zwangen damit, so schätzen es die Sicherheitsbehörden, zehntausende Frauen und Männer in die Prostitution und auf den „Bauarbeiterstrich“.

Die Zeugenaussagen der Beamten des Außenministers verraten viel über die Strategie des Hauses Fischer. Alle Aufmerksamkeit soll offenbar auf den eher unproblematischen, den Volmer-Erlass gelenkt werden. Die kritischen beiden Erlasse aus dem Jahr 1999 hingegen mögen in einer großen Erinnerungslücke verschwinden. „Carnet de … wie hieß das noch?“, schauspielerte etwa UN-Botschafter Pleuger.

Gespielte Unwissenheit ist ein Ausweg, den nur Subalterne eines Ministeriums suchen können. Der Bundesminister des Auswärtigen kann sich darauf nicht zurückziehen. Er muss für Lässlichkeiten und Vergehen geradestehen – egal ob er sie anordnete, billigte oder unter Umständen gar nicht kannte. „Das ist“, wie Fischer selbst kürzlich sagte, „der Inhalt der Ministerverantwortung.“ CHRISTIAN FÜLLER