: Kontexte für Monster
Andres Veiel montiert ein Theaterstück zu dem „Mord von Potzlow“ – „Der Kick“
VON CHRISTIANE KÜHL
Was geschehen ist, lässt sich in Worte fassen. Marcel selbst tut es: „Ich forderte ihn dann erneut auf, in diese Kante zu beißen. Marinus tat dies auch. In diesem Moment brannten bei mir die Sicherungen durch. Mit beiden Füßen sprang ich kräftig auf den Kopf von Marinus. Ich trug zu diesem Zeitpunkt meine schwarzen Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln Größe 43. Danach war schlagartig Ruhe.“
Am 12. Juni 2002 quälen Marcel, sein „deutsch-nationaler“ Bruder Marco und ihr Freund Sebastian in einem verlassenen Schweinestall in der Uckermark den 16-jährigen Marinus zu Tode. Wobei sie gegen Marinus „persönlich nichts haben“. Weil aber gerade kein Jude oder Ausländer zugegen ist, das Bier und der Schnaps leer und damit „sonst nichts mehr zu tun“ bleibt, trifft es Marinus. Immerhin stottert der. Seine Leiche vergraben die Jungs bei der Jauchegrube. Dann gehen sie schlafen.
Der „Mord von Potzlow“, der sechs Monate unentdeckt blieb, überstieg in seiner Willkür und Grausamkeit die Vorstellungskraft. Diese Leerstelle machte ihn perfekt für die Medien: Ein gigantisches Schaudern ließ sich da transportieren, täglich neue Details ausmalen und doch etwas Unfassbares konservieren, das die Fantasie zu Höchstleistungen anregte. Bestien, Monster, Steinzeit: All das war Potzlow bald, von außen betrachtet.
Andres Veiel guckt gerne von der anderen Seite. Der 45-jährige Filmemacher, der Psychologie studierte, bevor er bei Krzysztof Kieślowski lernte, hat für einen Vertreter der Bildwelt ein erstaunliches Interesse an Worten. Den Worten der anderen. Über Monate fuhr er immer wieder nach Potzlow um zuzuhören. Den Nachbarn, den Eltern, dem Pfarrer, dem Bürgermeister und den Tätern. Nach vielen vorsichtigen Besuchen nahm er ein Tonbandgerät mit; die Kamera nicht. Gemeinsam mit der Dramaturgin Gesine Schmidt hat er Stimmen gesammelt und diese zu einem Text montiert. „Der Kick“ heißt das so entstandene Theaterstück, das, wie schon Veiels großer Dokumentarfilm „Black Box BRD“ über den Mord an Alfred Herrhausen, nicht urteilt, sondern Perspektiven öffnet. Wobei „Perspektive“ im zukunftsweisenden Sinn in Potzlow ein Fremdwort ist: „Der Kick“ ist ein Textmosaik aus Aggression, Verachtung und Resignation. Liebe kommt zwar auch vor, hat aber im Kosmos der Demütigungen keine Chance.
Die Koproduktion des Theaters Basel und des Maxim Gorki Theaters wurde am Sonntag in Berlin in einem Gewerbehof uraufgeführt. In einer leeren, kalten Halle zwischen acht Säulen sprechen Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch den polyphonen Stimmenkanon. Beide schwarz gekleidet, Wrage mit Springerstiefeln, beginnen sie rührungslos frontal zum Publikum. „Man kennt das ja aus dem Fernsehen. Und plötzlich war das bei uns.“ Allmählich lösen sie die Steifheit auf, deuten Figuren an, machen die Vielzahl der Personen durch Gesten und Haltungen unterscheidbar. Mit minimalen Variationen – der stete Blick in den Boden des Marcel, die ängstlich suchenden Augen seiner Mutter, die freundlich-bestimmte Tonlage des Lehrlings, der die Schwarze aus der Nachbarschaft nicht verbrennen will, aber weiß, dass es einfach besser wäre, „wenn jeder in seinem Land“ bliebe – gelingt besonders Wrage Erstaunliches.
Die Körper der Schauspieler fungieren als Filter, als Schutzschilde, an denen sich die Verachtung der Zuschauer für die Protagonisten bricht und sie bereit macht, zuzuhören. Es ist Veiels großes Verdienst, dass er hinter den Momentaufnahmen der Monster recherchiert hat, dass er der Behauptung des „Unaussprechlichen“ misstraut hat und Worte gefunden, die das Geschehen zwar nicht erklären, aber kontextualisieren. Arbeitslosigkeit, Armut, Alkohol; Kriegsverlierer, Wendeverlierer, Allesverlierer. Vom bestialischen Ereignis wird der Fokus auf eine monströse Realität erweitert.
Trotzdem kann die Inszenierung das Problem der Darstellbarkeit der Verhältnisse nicht lösen. Im Programmheft sind Peter Weiss’ „Notizen zum dokumentarischen Theater“ zitiert. Dieser Idee der politisch-ästhetischen Aufklärung ist „Der Kick“ verhaftet – ganz so, als sei die Dokumentation als solche so wahrhaftig, dass 40 Jahre performativer Entwicklung spurlos an ihr vorüberziehen müssten. Wer die Gesprächsprotokolle lesen kann, gewinnt in der Aufführung kaum. Unglücklicherweise aber – und auch das ist an diesem Abend zu lernen – kann in diesem Land, in dem Schulabbruch gebietsweise zum Normalfall wird, nicht mehr jeder lesen. Und andere, auch in der Hauptstadt, stellen sich willentlich blind. Marcel, zur Tatzeit 17, wurde zu achteinhalb Jahren verurteilt. Im Knast kriegt er 220 Euro monatlich. Die schickt er nach Hause, weil es mehr ist, als seine Eltern in Potzlow zum Leben haben.