: Vom Überleben in der Höhle des Löwen
taz-Serie Kriegsende (Teil 7): Der Ukrainer Michail Tschernenko war Zwangsarbeiter in Berlin – dass er zugleich Jude war, wusste niemand. „Geh nach Deutschland. Wen sie zum Arbeiten holen, dem geben sie auch was zu essen“, riet ihm die Großmutter vor der Deportation zu. „Vielleicht überlebst du“
AUS MOSKAUKLAUS-HELGE DONATH
„Eine Klitsche, bestenfalls eine Bastelbude“, denkt Michail Tschernenko, als er die „Generatoren- und Motorenbau KG“ zum ersten Mal sieht. Die Werkshalle gleicht einem Stallbau, das Haus nebenan einem baufälligen Verschlag. Was soll er, der Zwangsarbeiter aus dem ukrainischen Charkow, den die Nazis vorher noch auf einen Schlosserlehrgang nach Stettin schicken, in dieser Bruchbude wohl an kriegsrelevanter Produktion herstellen, wundert sich der damals 17-Jährige. Berlin ist sein dritter Verbannungsort. Vorher schuftete Tschernenko mit tausenden Ostarbeitern in einem Rüstungsbetrieb im brandenburgischen Fürstenberg.
„Ich hatte einfach Glück im Unglück“, sagt er rückblickend. Von der Zwangsrekrutierung in Charkow 1942 bis zur Arbeit für den sowjetischen Geheimdienst NKWD nach dem Kriegsende gelingt es ihm, dem Schicksal immer wieder ein Schnippchen zu schlagen. „Geh nach Deutschland. Wen sie zum Arbeiten holen, dem geben sie auch was zu essen“, redet ihm die Oma vor der Deportation noch zu. „Vielleicht überlebst du.“
Nach dem Einmarsch in die Ukraine fallen die Nazis mit bestialischer Gewalt bald auch über die Zivilbevölkerung her, die die Besatzer zunächst als Befreier begrüßt hatte. Tschernenko ist nicht nur Ukrainer, er stammt auch aus einer jüdischen Familie. Die Verschleppung bewahrt ihn vor der sicheren Vernichtung. In der Höhle des Löwen angekommen, fragt niemand mehr nach seiner Herkunft.
Die Motorenwerke in der Nähe der S-Bahn-Station Oberspree sind mit 20 Mitarbeitern ein kleiner Betrieb. Die meisten Zwangsarbeiter stammen wie er aus der Ukraine, aber auch ein Belgier und ein Holländer sind darunter, erinnert sich Tschernenko. Die Verschleppten aus dem Westen sind besser gestellt. Sie erhalten mehr Lohn, müssen das erniedrigende Zeichen „Ost“ nicht auf der Kleidung tragen und dürfen zweimal im Monat Post empfangen. An ihre Namen, Josef Smits und Piter de Wroom, erinnert er sich bis heute. Man kommt gut miteinander aus.
In Berlin fühlt sich der junge Mann bald wie in einem „Kurort“, sagt er. Anders als noch in Fürstenberg gibt es im Motorenwerk keine hundertprozentigen Nazis, die das Parteiabzeichen auch noch an die Regenpelerine heften. Die Belegschaft in Berlin umschifft das Thema. Firmenchef Baron von Rosenberg ist von ganz anderem Schlag. Als Ingenieur hat er einige Jahre in Russland verbracht. Lässt es die Zeit zu, unterhält er sich mit den Arbeitern langsam, aber fehlerfrei auf Russisch. Er nennt sie beim Nachnamen und siezt sie. Das verschafft ihm Achtung.
Die Rote Armee steht schon an der Spree, als Tschernenko noch einmal bei von Rosenberg zu Hause in Köpenick vorspricht. „Deutschland hat den Krieg verloren“, sagt er ruhig, „ich wünsche Ihnen viel Glück.“
Kurort? Der Hunger ist auch in Berlin ein ständiger Begleiter. Obst, Milch, Eier oder Butter bekommt Michail jahrelang nicht zu sehen. Es sei denn, die Arbeiter organisieren sich selbst etwas. Dazu benötigt man jedoch „Handelsware“, bringen ihm die erfahrenen Insassen im benachbarten Fremdarbeiterlager Adlershof bei. Im Motorenwerk gibt es indes nichts, was sich abstauben und auf dem Schwarzmarkt in der Hermannstraße oder am Alexanderplatz umsetzen ließe.
Trotz aller Härte bedeutet diese Zeit für den Heranwachsenden auch Abenteuer. Diesen Eindruck vermittelt der rüstige Rentner bis heute. Tschernenko verkehrt in Welten und mit Menschen, zu denen der Sohn einer Intellektuellenfamilie sonst nie Zugang gehabt hätte. Der Großvater verlässt 1922 mit dem von Lenin in die Emigration geschickten „Philosophenschiff“ die Sowjetunion. Seine Mutter übersetzt deutsche Literatur und gehört einem Schriftstellerzirkel an, der sich nach E. T. A Hoffmanns „Serapionsbrüdern“ benennt. Schon vor der Verschleppung kann Tschernenko ein wenig Deutsch.
Kaum in Deutschland, beherrscht Tschernenko die Sprache des Feindes fließend und wird immer öfter als Dolmetscher herangezogen. Auch das erleichtert ihm so manches. Seine Fähigkeiten als Schlosser sind im Motorenwerk, das an einem kesselgetriebenen Motor experimentiert, gar nicht recht gefragt.
In Berlin wird Tschernenko zwar korrekt behandelt, die deutschen Angestellten bleiben aber auf Distanz zu den Fremden. Ein kameradschaftliches Verhältnis entwickelt sich nur einmal zu einem Kollegen. Elektriker Erwin Siewert in Fürstenberg behandelt ihn wie seinesgleichen und gibt auch schon mal einen Naziwitz zum Besten. Ansonsten herrscht strikte Trennung – im Betrieb wie im Luftschutzbunker, zu dem die Ostarbeiter keinen Zutritt haben. Meist suchen sie bei Bombenangriffen auf dem Gelände der Firma in ausgedienten Stahltanks Schutz. Dem Alarm folgt immer das gleiche Ritual. Jusik, der Belgier, schleppt die einzige schwere Schreibmaschine der Firma wie eine Reliquie in einen Unterstand, der vorschriftsmäßig mit einer Eisenplatte abgedeckt und gekennzeichnet ist, damit niemand versehentlich hineinfällt. Ordnung bis zum Ende, ja bis zum Absurden. Gerade diese Ambivalenz beschäftigt ihn bis heute.
So will er Ende März 1945 Kohl kaufen, der ohne Bezugsmarken erhältlich ist. Die Verkäuferin lehnt ab, nicht etwa, weil er ein Fremder wäre. Nein, nachmittags nach fünf Uhr gibt es Kohl nur noch auf „Spätschein“. „Ein verblüffendes Volk“, sagt Tschernenko lachend, „die Front vor der Nase, bald bricht alles zusammen, aber Kohl wird nur auf Spätschein herausgerückt.“
Im März spitzt sich die Lage zu. Tschernenko fährt ein letztes Mal am Wochenende zu Bekannten ins Lager nach Fürstenberg, danach gibt es keine freien Tage mehr. Der Betrieb läuft aber weiter, als sei alles beim Alten. Betriebsmeister Hoeft nimmt ihn kurz vorm Ende noch einmal beiseite. „Na, sag, was passiert mit dir, wenn die Russen erst da sind? Werden sie dir zärtlich über den Kopf streichen …?“ Tschernenko weicht aus, erwähnt die Wunderwaffe, die Hitler doch versprochen habe.
Die Versorgungslage ist miserabel. Die Deutschen, die auch noch den Weg in den Untergang nach Vorschrift antreten, stehen nach Brot an. Tschernenko macht sich mit Freunden auf die Suche nach Essbarem in den Laubensiedlungen, wo Laubenpieper ihr Eingemachtes noch mit Schrotflinten bewachen. Am 16. April ist es dann fast geschafft. Die Erde vibriert, die Verschleppten pressen die Ohren an den Boden. Panzer rücken immer näher. Rosenberg ruft die Belegschaft zusammen: „Bald können Sie nach Hause. Ich verstehe Ihre Freude und Ungeduld gut, kann Sie aber nicht einfach gehen lassen. Für uns alle hätte das schlimme Folgen. Haben Sie noch ein wenig Geduld, lange dauert es nicht mehr.“
Die Tage danach vergehen wie im Flug. Eines Morgens sind die Arbeiter allein im Betrieb. Ein Geschoss detoniert, Tschernenko stürzt, ist wie betäubt, aber niemand wird verletzt. Dann herrscht lange Ruhe. Vor dem Betriebsgelände steht eine sowjetische Vorhut. Tschernenko zieht „Beutekleider“ an und läuft mit einem Kumpel den vorrückenden Verbänden durch die menschenleeren Straßen entgegen. Der Empfang ist freundlich, sie werden fürstlich bewirtet und können sich endlich mal richtig satt essen. Mit einer Einheit stößt er kurz darauf über die Sonnenallee Richtung Zentrum vor. Einige niedere Dienstgrade begegnen dem „Repatrianten“ misstrauisch. Wochen später leitet er als Mitarbeiter des NKWD selbst die Suche nach untergetauchten Nazis. Drei Jahre verbringt er noch in Deutschland. Zum Glück, denn sonst wäre er wohl in einem sowjetischen Umerziehungslager gelandet. Wie hunderttausende rückkehrende Zwangsarbeiter.
Im Jahr 2001 erschien Michail Tschernenkos Buch „Die Seinen und Fremde“ auf Russisch. Einen Verlag in Deutschland hat er bislang nicht gefunden