: „Manchmal schiere Wut“
Ein Gespräch mit der Germanistin und Auschwitz-Überlebenden Ruth Klüger über Erinnerungskitsch, Gespenster und die Schwierigkeiten, emotionale Beziehungen zu Gedenkstätten zu entwickeln
INTERVIEW JAN-HENDRIK WULF
taz: „Die Toten stellen Aufgaben“, haben Sie mal geschrieben …
Ruth Klüger: … Erinnerungsaufgaben …
… und ich habe manchmal das Gefühl, dass die Deutschen gar nicht wissen, warum sie sich mit der Schoah auseinander setzen.
Ich habe das vor Jahren geschrieben, es hat sich inzwischen einiges geändert. Die Deutschen setzen sich, anders als die Österreicher, die noch ein bisschen hinterherhinken, mehr und mehr mit ihrer Vergangenheit auseinander, und sie tun das im Großen und Ganzen auch auf eine sehr ehrliche und lobenswerte Weise.
Hat die Mehrheitsgesellschaft der nichtjüdischen Deutschen nicht trotzdem ein ganz anderes Verhältnis zu den Toten als Sie?
Na sicher, es ist eine andere Perspektive, aber es muss auf eine Zusammenführung hinauslaufen, dass man über das, was da geschehen ist, sprechen kann und sich verständigen kann. Ich glaube, das passiert auch … immer mehr.
Meinen Sie ein gemeinsames Gefühl oder erst einmal ein Gespräch?
Na ja, unser Auschwitz hier, euer Auschwitz da – es ist eben ein Ort gewesen und ein Ereignis in der Geschichte. Sich dem von verschiedenen Seiten aus anzunähern kann ja bedeuten, dass man sich irgendwo in der Mitte trifft.
Sie haben von einer „knirschenden Wut“ geschrieben, „die unsereiner irgendwann haben muss, um den Ghettos, KZs und den Vernichtungslagern gerecht zu werden“.
Die habe ich. Je älter ich werde, desto mehr habe ich das – mit allen diesen versöhnlichen Sprüchen, die ich hier von mir gebe. Wenn ich in Wien bin, habe ich manchmal einfach eine schiere Wut aus Sympathie mit dem Kind, das ich einmal gewesen bin. Und dieses Kind war ziemlich hartgesotten und hat sich gar nicht besonders Leid getan. Aber jetzt, wo ich 73 bin, tut es mir Leid. Weil es nicht in die Museen konnte, weil es in immer schlechteren Zimmern gewohnt hat, weil es schließlich deportiert worden ist – aus allen diesen Gründen tut es mir Leid, und ich komme nach Wien und habe eine Wut. Natürlich ist es nicht nur dieses eine Kind, das ich gewesen bin, sondern auch die andern. Mit der zunehmenden Distanz ist auch die Perspektive breiter geworden. Was ich früher als Selbstmitleid verurteilt hätte, erscheint mir jetzt doch als ein ziemlich gezielter Blick auf das Geschehene.
Und was machen Sie mit der Wut?
Ach Gott, manchmal schreibe ich was darüber oder sonst schluck ich’s.
Ich kann mir nur vorstellen, dass die nichtjüdischen Deutschen auch ein bisschen Angst haben und sich fragen, wo denn eigentlich die knirschende Wut bleibt.
Sie sagen, wo bleibt die Wut bei den Deutschen, dass das geschehen ist?
Ich meine eher das Gefühl, dass der Genozid nicht wirklich gesühnt wurde.
Ich begegne nicht vielen Deutschen, die das Gefühl haben, es sollte mehr gesühnt werden. Ich glaube, das ist kein deutsches Problem.
Der Germanist Heinrich Detering hat Ihren Umgang mit der Literatur als „Exorzismus“ bezeichnet. Steht das in einem Zusammenhang mit der Wut?
Ja, ich spreche oft über Gespenster, das sind Erinnerungen, die man nicht richtig im Griff hat, die sich loslösen, wo man die Kontrolle verliert. Und die geistern dann irgendwie. Ich glaube, Gespenstergeschichten basieren auf so etwas. Und ich würde sehr gerne welche schreiben können. Trotzdem bin ich keine Schriftstellerin in dem Sinn, dass ich Geschichten schreiben kann. Die gelingen mir nicht.
Aber der Exorzismus schon?
Es wäre dann eben die Sache, dass man diese Erinnerungen wieder in den Griff bekommt. Wenn Sie es auf prosaische Weise ausdrücken wollen: Die Gespenster sind mir lieber. Weil sie Gestalt annehmen, nicht wahr? Dass man sich mit Gespenstern abgibt, ist poetischer, als dass man sich mit Erinnerungen abgibt, die man nicht in den Griff bekommt.
Sie haben also nicht die Absicht, die Menschen zu bessern und zu bekehren?
Ich werde immer wieder gefragt: „Was sollen wir tun, gib uns Ratschläge.“ Dazu bin ich nicht da. Die Literatur oder auch Autobiografie ist ein Niederschlag, ein Echo, eine Spiegelung dessen, was geschieht. Es kann ein Zerrbild sein. Aber es ist nicht als Zielsetzung oder als Lehrstoff gemeint, außer wenn es eben Erbauungsliteratur ist. Ich habe keine Erbauungsliteratur geschrieben. Man verlangt nicht einmal so sehr zu viel als vielmehr das Falsche von einem Buch, wenn man fragt, wie kann ich mein Leben bessern, wenn ich dieses Buch lese.
Viele Deutsche wollen sich doch in ein besseres inneres Verhältnis zu ihrer Vergangenheit setzen. Vielleicht ja mit Ihrer Autobiografie?
Viele wollen genau das von mir. Und da bin ich überfordert und kann nicht weiter.
Wirken da nicht auch autoritäre Denkmuster fort, wenn man sich über die richtige innere Haltung belehren lassen möchte?
Ja, die wirken schon fort. Allein wenn man diese ganzen Verbote sieht. Darum bin ich ja der Meinung, dass man wirklich aufpassen muss, bevor man diesen rechten Gruppen alles Mögliche verbietet. Das mit dem Verbieten ist ein Zeichen von autoritären Denkmustern in Deutschland. Dass man immer glaubt, wenn einem etwas nicht passt, kann man draufhauen und sagen: verbieten, und dann wird’s unter den Teppich gekehrt. Da müssen Deutsche sehr vorsichtig sein, das ist irgendwie in der Tradition. Und andererseits folgt man ganz gerne Befehlen oder Regeln. Mehr als anderswo.
Grete Weil hat geschrieben: „Man kann einem Steinbruch nicht ansehen, ob in ihm gemordet wurde.“
Nein, kann man auch nicht. Die Stätten sind dieselben, sie sind anders in jeder Phase. Und das KZ als Gedenkstätte ist nicht mehr das KZ, in dem Menschen ermordet wurden. Man kann das eine nicht mit dem anderen gleichsetzen. Um das richtig zu machen, braucht es ein bisschen Verstand und Vernunft und Sympathie und Fantasie.
Vielen Menschen fällt es ja durchaus schwer, sich zu einer Gedenkstätte emotional in Beziehung zu setzen.
Das verstehe ich, dafür habe ich Sympathie. Die meisten Leute können das nicht. Und dann wird von ihnen verlangt, dass sie’s sollen, und wenn sie’s dann versuchen, haben sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie’s nicht können. Andererseits höre ich immer wieder von Leuten, die sagen, sie waren überwältigt von einem Besuch in einem KZ, das hat ihnen wirklich etwas gegeben. Da kann man nur sagen: Das ist gut.
Was empfinden Sie dabei, wenn Ihnen jemand sagt, der Besuch in einem KZ habe ihm etwas gegeben?
Ich glaube es, warum sollte man mich anlügen? Ich fühle mich dann kritisiert in meiner Kritik der Gedenkstätten. Und nehme zur Kenntnis, dass es viele Menschen gibt, die diese Gedenkstätten für wichtig halten.
Wird das Schoah-Gedenken denn instrumentalisiert und vereinnahmt?
Ja, sicher. Es wird vereinnahmt als Pornografie, als Kitsch und zu Gedenkfeiern. Dagegen sträube ich mich und bin auch gegenüber Gedenkstätten misstrauisch. Es gibt natürlich sehr gute Gedenkstätten. Es hängt eben davon ab, was da gemacht wird. Die Leute müssen selber teilnehmen können. Zum Beispiel finde ich sehr gut, dass jetzt viele Jugendliche in ihren eigenen Stätten und Ortschaften herumschnüffeln und herausfinden, was da gewesen ist. Das sind aktive Formen der Erinnerung.
Was meinen Sie mit Kitsch?
Kitsch ist eine Selbstreflexion. Man denkt mehr an sich und wie viel Sympathie man hat, und das ist verlogen. Da wird etwas ausgelassen oder verfälscht oder verschönert, das nicht so behandelt werden sollte. Man sucht das eine kleine Kind, mit dem man Sympathie haben will, oder man sucht den einen, der entkommen ist, identifiziert sich – und vergisst darüber, dass die Schoah ja mit sechs Millionen Menschen zu tun hat, die umgekommen sind, nicht mit so ein paar Leuten, die entkommen sind.
Die Zeitzeugen der Schoah sterben langsam aus. Führt die biografische Distanz nicht automatisch zu mehr emotionaler Selbstbespiegelung?
Das ist nicht unbedingt eine Frage der Zeit. Der größte Roman über Napoleon ist 40 Jahre später geschrieben worden, nämlich Tolstois „Krieg und Frieden“. Es ist unmöglich vorauszusagen, was die nächste Generation machen wird. Inzwischen wird es auch noch andere geschichtliche Ereignisse geben, mit denen sie sich auseinander setzen müssen. Und dadurch wird wahrscheinlich die Schoah einen geringeren Platz einnehmen, als sie es im Moment tut. Oder auch nicht. Vielleicht wird es das überwältigende Ereignis bleiben, als das es uns jetzt erscheint. Ich selbst kann nichts anderes tun, als das wiederzugeben, was ich erlebt habe. Wie das aufgenommen wird, ist dann schon abhängig von denen, die es rezipieren.
Kommt denn was zurück?
Es kommt offensichtlich was zurück. Das Buch, das ich darüber geschrieben habe, wird gelesen. Also, da ist schon was. Manchmal versteh ich es nicht, manchmal versteh ich es ein bisschen besser. Es ist ziemlich viel Identifikation dabei, und sicher schwappt diese Identifikation manchmal ins Kitschige um – aber nicht immer. Und ich kann’s nicht ändern.
Mit Ihren eigenen Kindern haben Sie nicht sehr ausführlich über Ihre Zeit im Lager gesprochen, oder?
Mit meinen Kindern spreche ich darüber, wenn sie Lust dazu haben. Was nicht sehr oft der Fall ist. Sie haben andere Sorgen.
Teilen Sie diese Dinge Ihres Lebens lieber mit Ihren deutschen Lesern?
Ich habe nie was zurückgehalten. Es war nur eine Frage des Interesses. Ich habe meine Kinder nicht mit diesen Geschichten überwältigt. Ich habe gedacht, das sei nicht gut für sie. Dass es nichts für Kinder ist. Wenn sie gefragt haben, habe ich meistens kurz geantwortet. Und jetzt haben sie das Buch, da können sie sich selbst ein Bild machen.