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Archiv-Artikel

Kahlschlag als Rache

Den Kahlschlag im Schlossgarten hält sie für einen Rachefeldzug. Die Soziologin Annette Ohme-Reinicke warnt die Grünen in ihrem Debattenbeitrag davor, den Protest gegen den Bahnhof als Trittbrett zu betrachten: Es wäre geboten, zugunsten der Bürgerbewegung auf einen eigenen OB-Kandidaten zu verzichten

von Annette Ohme-Reinicke

In einem Gespräch über Mündigkeit sagt Theodor W. Adorno, „dass Versuche, in irgendeinem partikularen Bereich unsere Welt wirklich eingreifend zu ändern, sofort der überwältigenden Kraft des Bestehenden ausgesetzt sind und zur Ohnmacht verurteilt erscheinen. Wer ändern will, kann es wahrscheinlich überhaupt nur, indem er diese Ohnmacht selber und seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt und vielleicht auch was er tut.“

Dieser Gedanke kann nützlich sein für die Kontext-Debatte, die dazu beitragen soll, „das Traumatisierende von Stuttgart 21“ zu überwinden. Traumata, einen Zustand der Ohn-Macht, überwindet man nicht, indem man sie abwehrt nach dem Motto: „Schuld ist die Bahn“ (Muhterem Aras) oder indem man sie umdeutet: Die Volksabstimmung war „paradoxerweise“ ein Erfolg (Wolfgang Schorlau), sondern indem man sich noch einmal in die Situation hineinbegibt, die diese Traumatisierung – richtiger: politische Niederlage der Protestbewegung – erzeugt hat.

Wolfgang Schorlau interpretiert in seinem Kontext-Beitrag vom 4. Februar das Ergebnis der Volksabstimmung als Gewinn. Denn es habe für die Grünen mehr Stimmen gegeben als bei der Landtagswahl. Um diesen Vorsprung auszubauen, sollten die Grünen ihre Kritik an Stuttgart 21 jetzt unbedingt aufrechterhalten, ja intensivieren. Überdies sollten sich SPD und Grüne auf einen gemeinsamen Oberbürgermeisterkandidaten einigen. Warum aber können die beiden Parteien nicht zugunsten der Bürgerbewegung auf einen Kandidaten verzichten? Gänzlich in der Logik von Parteipolitik argumentierend, sieht er die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 hier in erster Linie als einen Gegenstand parteipolitischen Machtgewinns.

Eine Partei ist ein hierarchisches Unternehmen

Nach den Erfolgen bei der Kommunal- und Landtagswahl, so Muhterem Aras in ihrer Antwort auf Schorlau, hätten die Grünen angenommen, „das ginge so weiter“. Das „das“ wird nicht weiter expliziert. Gemeint hat sie wohl den Zugewinn an Wählerstimmen für ihre Partei. Für Wolfgang Schorlau ist „das“ so weitergegangen: Die Zahl der Stimmen sei gestiegen. Der Schriftsteller unterstellt dabei, dass die Stimmen für den Ausstieg des Landes aus der Stuttgart-21-Finanzierung grüne Stimmen seien. Belegen lässt sich das nicht. Schorlau hat aber insofern recht, als der politische Gewinner der Volksabstimmung die Partei der Grünen ist. Dennoch: „In den grünen Reihen“, so Schorlau, „wird die Volksabstimmung als Niederlage empfunden.“ Auch das stimmt, denn es gibt nicht wenige Mitglieder der Grünen, die sich aus tiefster Überzeugung von der Unsinnigkeit des Projekts gegen Stuttgart 21 engagiert haben. Sie sind Parteimitglieder und insofern dem Kurs der Partei verpflichtet.

Eine Partei, auch die der Grünen, ist ein hierarchisches Unternehmen, das Parteidisziplin und Unterordnung verlangt. Den Kurs der Partei bestimmt nicht die Basis, sondern die Parteispitze, in Baden-Württemberg derzeit vor allem das grüne Staatsministerium. Und dieser Kurs richtet sich im Wesentlichen danach, möglichst viele Wählerstimmen zu gewinnen, um im politischen System der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik möglichst weit nach oben zu gelangen. Dies ist das primäre Interesse einer Partei, sie legitimiert sich durch Wählerstimmen und ist bestrebt, Mehrheitsmeinungen zu bedienen oder – in Abstimmung mit großen Interessengruppen – zu erzeugen. Letztlich hat eben doch die Partei immer recht.

Ein zweiter und dritter politischer Gewinner der Volksabstimmung sind die CDU und neben diversen Großkonzernen die Interessenverbände der Wirtschaft. Die Direktive von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Arbeitgeberchef Dieter Hundt lautete bereits im Sommer 2010, sich der Stuttgarter Protestbewegung „nicht zu beugen“, auch um außenpolitisch glaubwürdig zu bleiben, etwa gegenüber Griechenland. Dieses Ziel, die Botschaft „Stuttgart 21 wird gebaut“ in die Welt zu setzen, ist zumindest in der politischen Außendarstellung vorerst erreicht worden. Nämlich durch die Produktion von Mehrheitsmeinungen. Wichtigster Punkt dabei war die Volksabstimmung. So hat sich, obwohl die Baden-Württemberger CDU die Regierungsmehrheit verloren hat, die CDU-Linie durchgesetzt.

Dabei hatte alles ganz anders angefangen, jenseits irgendeiner Parteienlogik. Das Projekt Stuttgart 21 wurde seit 1994 nicht von den Grünen, sondern von Bürgern in Frage gestellt und heftig kritisiert. Seit fast zwanzig Jahren versammelte sich ein breites politisches Spektrum, von konservativen, auf die Erhaltung des Bestehenden ausgerichteten Gruppen und Einzelpersonen bis zu verschiedensten linken Gruppierungen, die nach Möglichkeiten eines besseren Lebens in der Stadt fragten. Die Parteipolitik der Grünen war dabei zunächst nicht dominant, wenngleich es verschiedene Initiativen einzelner Grünen-Mitglieder gab, das Projekt Stuttgart 21 zu thematisieren.

Einzelne Parteimitglieder können zwar hier und da agieren, eine Partei als Partei zielt aber immer auf Mehrheiten. Das bedeutet auch, Stimmungen und Mentalitäten in der Bevölkerung zu bedienen. So musste, wer in Baden-Württemberg politisch etwas werden will, irgendwie als Wertkonservativer auftreten. Winfried Kretschmann weiß das. Er veröffentlichte 2002 in einem von Erwin Teufel herausgegebenen Buch einen Aufsatz mit dem Titel „Bürgerschaftliches Engagement braucht traditionelle Werte“. Kretschmann schrieb: „Ohne solche traditionellen Werte [wie ,Einsatz, Mühe und Pflichtgefühl‘, A. O.-R.] kommt man heute nicht mehr aus, wenn man es richtig machen will.“ Das Wörtchen „es“ wird hier nicht weiter ausgeführt. Es dürfte aber mit dem Aras’schen „das“ korrespondieren und für Stimmengewinn und damit politischen Einfluss der Grünen stehen. Der wiederum ist auch davon abhängig, den „richtigen“ Partner zu finden.

In dieser Frage allerdings haben SPD und Grüne bei den beiden zurückliegenden Oberbürgermeisterwahlen keine Antwort gefunden. So konnte Wolfgang Schuster 16 Jahre lang in der Landeshauptstadt regieren. Viele Stuttgart-21-Gegner wählten vor acht Jahren Wolfgang Schuster auf Empfehlung von Boris Palmer. Das Versprechen einer Volksabstimmung, das er Wolfgang Schuster abgerungen haben will, hatte keinerlei Bedeutung. Möglicherweise wegen dieser Erfahrungen hatte Boris Palmer noch im Sommer 2010 während einer Montagsdemonstration die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 vor allzu großer Hoffnung in die Parteien gewarnt. Er hielt es für ausgeschlossen, dass die Grünen eine Mehrheit erzielen könnten, und erklärte kategorisch, dass es eine Koalition zwischen Grünen und SPD nicht geben werde. Erfolgreich könnten allein große Demonstrationen mit bis zu fünfhunderttausend Teilnehmern sein, die eine Mehrheitsmeinung auf die Straße trügen. Die baden-württembergischen Grünen hatten ihren Koalitionspartner längst im Visier: die CDU.

Machtpoker um Stimmenanteile

Als es der CDU im September 2010 nicht gelang, die Protestbewegung politisch in den Griff zu bekommen, war die Stunde der Grünen gekommen. Sie suchten zu schlichten und traten als Hüter der Ordnung auf.

Freilich glaubten die Grünen selbst nicht daran, dass sie es an die Regierungsspitze Baden-Württembergs schaffen würden. So ließen sich munter allerlei Versprechen machen, deren Einhaltung – so die Annahme – niemals auf den Prüfstand gelangen würden. Die Umfragewerte waren Ende Februar 2011 so, dass es wieder für Schwarz-Gelb gereicht hätte. Das muss man ganz klar sehen!

„Dann kam Fukushima und plötzlich war alles anders“, schreibt Muhterem Aras. Was aber vor allem anders war, war die Position der Grünen im Machtpoker um Stimmenanteile. Sie mussten nämlich jetzt ihre Strategie ändern. Diese bestand vor allem darin, für eine grüne Politik irgendwie eine politische Mehrheit in der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 zu schaffen. Folglich wurde rasch auf die versprochene verfassungsrechtliche Überprüfung der Verträge über Stuttgart 21 verzichtet – obgleich es Aussagen von drei namhaften Staatsrechtlern verschiedenster politischer Couleur gab, die die Rechtmäßigkeit der Verträge infrage gestellt hatten.

Stattdessen wurde mit der SPD die Vereinbarung getroffen, eine Volksabstimmung durchzuführen. Vorschläge für eine Bürgerbefragung hatte es bereits gegeben. Jetzt aber tauchte eine Volksabstimmung nach SPD-Modell auf. Sie wurde hinter verschlossenen Türen von der Parteispitze der Grünen und der SPD festgelegt. Die Bürgerbewegung ihrerseits vertraute naiv dem Versprechen der Grünen, sich gegen Stuttgart 21 einzusetzen.

Nach der Landtagswahl sahen die Grünen jedoch ein politisches Problem heraufziehen. Nämlich dann, wenn – wie anzunehmen war – das Quorum der Volksabstimmung nicht erreicht würde, während sich gleichzeitig eine Mehrheit gegen den Weiterbau aussprechen würde. Dann nämlich hätten die Grünen all jene Stimmen verloren, mit denen sich einige Wähler für die Wiederherstellung der „Ruhe und Ordnung“ bedankten, und sie hätten gleichzeitig eine formaldemokratische Minderheit vertreten müssen, nämlich die Gegner von S 21, die zugleich in der politischen Mehrheit gewesen wären. Deshalb sagte Winfried Hermann nach der Volksabstimmung in der Stuttgarter Zeitung, er sei „froh, dass das Ergebnis so klar ausgefallen ist“. Sein Albtraum wäre „ein Sieg der Gegner gewesen, ohne das Quorum zu erreichen“. Möglicherweise liegt ja in der Prävention dieses Albtraums der Grund dafür, dass so manche Informationsbroschüre der Grünen vor der Volksabstimmung über S 21 schlecht gestaltet war.

Winfried Kretschmann hat recht, wenn er sagt, die Volksbefragung war ein „Sieg der repräsentativen Demokratie“. Aber: „Das Repräsentationsprinzip (…) wurde als Verfassungsnorm erdacht, gewollt und verwirklicht mit einer genauen repressiven Aufgabe, die schon von Anfang an einen Befriedungscharakter trug. Es galt, friedlich, aber wirksam die Mehrheit der Bevölkerung von den Machtzentren des Staates fernzuhalten“, schrieb Johannes Agnoli bereits 1967 in der „Transformation der Demokratie“.

Was sich in Stuttgart in den letzten Jahren abgespielt hat, findet seine Entsprechung aktuell an anderen Plätzen der Republik, ja der Welt. Auch die Occupy-Bewegung etwa weist darauf hin, dass der Lobbyismus von Finanz- und anderen Industrien längst damit begonnen hat, die Legitimität westlicher Demokratien zu untergraben. Ein Großteil der Bevölkerung sieht sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten; Parteien sind immer weniger in der Lage, die sozialen Probleme der Bevölkerung politisch zu erfassen. Die Rede von der „Krise der Repräsentation“ macht auch in den Politikwissenschaften die Runde. Dies allerdings ist historisch gesehen keine neue Situation, sondern eine politische Konstellation, die viel Neues hervorbringen kann. Gerade die SPD und die Grünen sind selbst Produkte sozialer Bewegungen. Diese Bewegungen drücken immer die Erfahrung aus, dass es politische Probleme gibt, die von Parteien nicht vehement genug in Angriff genommen werden oder für die es keine Repräsentanten gibt.

Folglich bilden sich gegenwärtig nicht nur in Stuttgart neue Formen des Politischen, die nicht in die Parteienlogik passen. Es entwickelt sich ein grundsätzlicher, struktureller und politischer Widerspruch zwischen Bürgerbewegungen und Parteien. Parteien sind immer einer bestimmten Logik verhaftet. Im Vordergrund steht die nächste Wahl, der politische Machtgewinn oder -verlust, häufig sollen die Interessen von Lobbyisten bedient werden. Politische Einzelfragen wie etwa die, ob ein bestimmtes Gesetz verabschiedet, ob ein technisches Großprojekt gebaut werden soll oder nicht, werden von Parteien – und das liegt in der Logik ihres Agierens, ihres Politikverständnises – in der Regel primär unter dem Gesichtspunkt des Wählerstimmengewinns behandelt.

Einzelfragen stehen oftmals nicht wirklich zur Disposition, sondern geraten vielmehr zu einer Frage danach, wie ein Projekt oder ein Gesetz in Kampagnen verpackt, „politikverträglich“ gestaltet oder „der Öffentlichkeit kommuniziert“ werden kann, gegebenenfalls mit teuren Werbekampagnen. In der Forderung nach „mehr Demokratie“ oder „direkter Demokratie“, „Bürgerbeteiligung“ oder „Partizipation“ steckt auch der Wunsch, sich parteipolitischen Taktierens zu entledigen, eingefahrene Repräsentationsformen zu verlassen und öffentliche Belange als „res publica“ auszuhandeln.

Lobbyisten der Wirtschaft und CDU konnten kein besseres Ergebnis erzielen als die gewonnene Volksabstimmung. Der höchste Souverän ist in der Bundesrepublik formal die wählende Bevölkerung. Egal wie die Wahlentscheidungen zustande kamen: Mit Mehrheiten lässt sich fast alles legitimieren, das hat in Deutschland Geschichte. Obendrein verspricht das Ergebnis der Volksabstimmung, dass man sich mit ein bisschen Provokation selbst der Grünen entledigen kann. Wenn nämlich eine grüne Partei Wasserwerfer gegen die protestierenden Bürger einsetzt, dann spült sie damit ihre eigenen potenziellen Wähler weg.

Kahlschlag als Rachefeldzug

Das wiederum wäre der CDU und der SPD natürlich gerade recht. Außerdem sitzt bei den CDU-Seilschaften der Schreck über die verlorene Wahl tief. Die zu Verhandlungen und Bauverzug gezwungenen, aus politischen Ämtern abgewählten und in ihrer planerischen Unfähigkeit vorgeführten Protagonisten von Stuttgart 21 scheinen sich nun, mit der gewonnenen Volksabstimmung im Rücken, erst recht an keinerlei Vereinbarungen mehr gebunden zu sehen und gehen, gleich einem Rachefeldzug, am Südflügel und im Schlossgarten zum Kahlschlag über.

Dies zu stoppen, unternimmt die grüne Partei keinen Versuch. Gewählt wurde sie auch aufgrund von Versprechen an die Bürgerbewegung, sich gegen Stuttgart 21 einzusetzen. Dies wurde nicht gehalten. So entsteht der Eindruck, die Bürgerbewegung diene der Partei vornehmlich als Trittbrett. Welche Lernprozesse seitens der Bürgerbewegung sich daran anschließen, ist freilich offen. Eine spannende Frage wird etwa die Wahl des Bürgermeisters sein, ob es nämlich gelingt, einen Vertreter von Bürgern anstelle eines Repräsentanten von Parteien zu finden. Es stellt sich überdies die Frage, ob es nicht seitens der Grünen geboten wäre, zugunsten der Bürgerbewegung auf einen eigenen Kandidaten zu verzichten.

Annette Ohme-Reinicke ist promovierte Soziologin und Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart. Politisch sozialisiert in Frankfurt am Main, beschäftigt sich die 51-Jährige seit Jahren mit den Spannungen zwischen technischer Modernisierung und Gesellschaft sowie sozialen Bewegungen. Sie ist Autorin des Buches „Das große Unbehagen – Die Protestbewegung gegen Stuttgart 21: Aufbruch zu neuem bürgerlichen Selbstbewusstsein“.

Den nächsten Debattenbeitrag, in dem das Traumatisierende von S 21 überwunden werden soll, schreibt der Daimler-Betriebsrat und Stadtrat Tom Adler. Er ist Mitglied der SÖS-Fraktion, SÖS steht für Stuttgart Ökologisch Sozial.