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Archiv-Artikel

Die Sprache liegt in der Hand

TASTSINN Wer weder hört noch sieht, kann Buchstaben erfühlen. Mit den Fingerkuppen. Und einer simplen Kommunikationsform: dem Lormen

Lormen

■ Die Sprache: Lormen ist eine Kommunikationsform für Taubblinde. Lormende tasten auf die Handinnenflächen, um Wörter zu erfühlen: Den Fingern und Handpartien sind Buchstaben zugeordnet. Eine berühmte taubblinde Schriftstellerin war Helen Keller. Sie lernte es, sich zu verständigen, indem man ihr das Fingeralphabet in die Hand buchstabierte, das oft von Gehörlosen benutzt wird.

■ Das Lorm-Alphabet: Ein Strich vom kleinen Finger hinab bedeutet ein „H“, eine klopfende Bewegung auf der Handinnenfläche ein „R“: Das Lorm-Alphabet wird vor allem im deutschsprachigen Raum, den Niederlanden und Tschechien angewendet. Wie viele Menschen lormen, ist nicht bekannt: Lormen lernen können alle, die eine gewisse Sprachkompetenz beherrschen.

AUS HANNOVER PHILIPP BRANDSTÄDTER

Nachrichten, Werbebotschaften, Unterhaltung. Während sich die einen absichtlich mit Kopfhörern und Sonnenbrillen vor der Flut auf die Sinne schützen, würden sich andere wünschen, mehr davon wahrzunehmen.

Hanna Zülsdorff zum Beispiel. Sie ist taub und blind. Von Geburt an gehörlos, sorgten die Eltern dafür, dass sie trotz ihrer Behinderung die deutsche Sprache erlernte, einen Beruf ausüben konnte. Hanna Zülsdorff arbeitete in einer Schokoladenfabrik. Mit zwanzig begann sie schlecht zu sehen. Die Netzhaut löste sich ab. Heute sieht die 87-Jährige nur noch wenige Lichtquellen hinter einem grauen Nebelschleier, hört bloß ein Fiepen. Dass sie dennoch zurechtkommt in ihrer Umgebung, verdankt sie ihrem hervorragenden Tastsinn. Und einer besonderen Technik: dem Lormen.

Hieronymus Lorm war es, der taubblinde Menschen Ende des 19. Jahrhunderts aus der Isolation führte. Weil er als Jugendlicher erblindete und im Alter sein Gehör verlor, entwickelte der Schriftsteller ein Hände-Alphabet. Er ordnete den fünf Fingern und Handpartien bestimmte Buchstaben zu. So lassen sich Botschaften in die Hand eintippen wie in eine Tastatur.

Die Vokale liegen auf den Fingerkuppen. Ein langer Strich vom Mittelfinger bis zur Handwurzel ist ein L. Für ein B streicht man den Zeigefinger hinab, für das verwandte P den Zeigefinger hinauf.

Eine simple und effiziente Form der Kommunikation, die sich vor allem in Deutschland durchsetzte, weil die Gebärdensprache hier lange unterbunden wurde. Man glaubte, das Gebärden würde seh- und hörgeschädigte Kinder davon abhalten, die deutsche Sprache zu erlernen und ihnen so den Weg in die Gesellschaft versperren. „Inzwischen ist erwiesen, dass das Gegenteil der Fall ist“, sagt Gudrun Lemke-Werner. „Durch das Gebärden lernen die Kinder die Schriftsprache sogar schneller.“

Lemke-Werner ist Direktorin des Bildungszentrums im Deutschen Taubblindenwerk in Hannover, einer Einrichtung mit Förderschule, Reha-Zentrum und Wohnheim im Osten der Stadt. Ein Flachbau mit breiten Gängen, Klingeln mit Licht- und Vibrationssignalen und sich automatisch öffnenden Türen. Hier versuchen Lemke-Werner und ihr Kollegium den Weg in die Gesellschaft zu ebnen. „In der Sprachförderung lehren wir Gebärdensprache, die Brailleschrift, das Daktylieren und natürlich das Lormen“, sagt die Pädagogin. Seit dreißig Jahren arbeitet sie im Taubblindenwerk.

Genauso lang, wie Hanna Zülsdorff dort schon lebt. Gemeinsam mit sechzig anderen Bewohnern, die Unterstützung brauchen. Im sogenannten Mediencafé, in dem sich die Taubblinden mit ihren Besuchern und dem Personal austauschen, nippt Hanna Zülsdorff am Milchkaffee, befühlt den Pullover, den ihre Lormdolmetscherin trägt. Es ist der plüschige, der unterm Weihnachtsbaum lag, das erkennt sie sofort.

Hände werden geschüttelt und gedrückt, Hände berühren Gesichter, Hände lormen. Und plötzlich erscheint ein Dasein ohne die beiden wichtigsten Sinne alles andere als sinnlos. Es ist lebenswert.

In Deutschland leben 1.500 taubblinde Menschen, schätzt der Blinden- und Sehbehindertenverband. Die Dunkelziffer könnte bei 10.000 liegen. Wer in Isolation lebt, taucht in keiner Statistik auf. Für den Verlust des Gehörs und der Sehkraft gibt es wiederum mehr als siebzig Ursachen. Früher waren Röteln in der Schwangerschaft die größte Gefahr. Heute sind es verschiedene Syndrome, spontane genetische Mutationen, die eine Taubblindheit verursachen können. Die Betroffenen eint, dass sie auf spezielle Unterstützung angewiesen sind. Und die ist nur schwer zu bekommen.

Ein Strich vom Mittelfinger bis zur Handwurzel ist ein L. Für ein B streicht man den Zeigefinger hinab

Der Schwerbehindertenausweis unterscheidet nur zwischen dem Merkzeichen „B“ für blind und „T“ für taub. „Weil ein Taubblinder jedoch mehr Bedürfnisse hat als die Summe eines Blinden und eines Gehörlosen zusammen, fordern wir ein zusätzliches Merkzeichen für Taubblinde“, sagt Gudrun Lemke-Werner. „Tbl“. In der Politik habe sich bis dato nur wenig bewegt. „Taubblinde benötigen persönliche Assistenz. Die muss schon einsetzen, bevor überhaupt Sozialleistungen in Anspruch genommen werden.“

Lediglich die Beträge des Blinden- und Betreuungsgelds zu erhöhen reiche da nicht. „Es muss ein Weg gefunden werden, damit Taubblinde mehr Personal gestellt bekommen“, sagt die 57-Jährige. Zu wenig Lormdolmetscher würden auf den Ämtern zur Verfügung stehen, viel zu wenig Hilfskräfte, die das Lormen beherrschen, um Taubblinde zu begleiten und sie über die Geschehnisse draußen in der Welt auf dem Laufenden zu halten.

Für die Geschehnisse um sie herum interessiert sich Hanna Zülsdorff nicht mehr allzu sehr. Sie versteht nicht mehr so viel wie früher, fühlt sich überfordert. Vor einigen Jahren hat sie die Worte schon nach wenigen Anfangsbuchstaben erraten. Jetzt müssen ihr Buchstaben häufiger gelormt werden, bis sie sie erkennt.

Hanna Zülsdorff nickt zustimmend, als das Personal von ihr spricht. So, als würde sie zuhören. „Hanna“, ruft Hanna Zülsdorff, nippt wieder am Milchkaffee. Guten Kaffee erkennt sie ganz genau. Und gute Schokolade, die sowieso.