piwik no script img

Archiv-Artikel

Keine Gitterpflicht im Pflegeheim

Bundesgerichtshof lehnt Klage der Krankenkasse AOK gegen Berliner Heimträger ab. Die Kasse wollte die Behandlungskosten einer gestürzten alten Dame nicht bezahlen. „Würde und Selbständigkeit“ der Heimbewohner müssen gewahrt bleiben

AUS FREIBURG CHRISTIAN RATH

Sturzgefährdete alte Menschen müssen im Pflegeheim nicht unbedingt angegurtet oder hinter Bettgittern verwahrt werden. Dies entschied gestern der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. Bei der Sturzsicherung sei auch auf Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht der Alten zu achten.

Konkret ging es um die 1912 geborene Gertrude W., die in einem Berliner Pflegeheim lebte. Sie war stark sehbehindert, zeitweise desorientiert und verwirrt, ihr Gang war sehr unsicher. Als sie im Juni 2001 während der Mittagsruhe versuchte aufzustehen, stürzte sie und brach sich dabei den Oberschenkel.

Nun weigerte sich allerdings die Krankenkasse AOK, für die Krankenhaus- und sonstigen Behandlungskosten ihrer Versicherten aufzukommen und sah stattdessen den Träger des Pflegeheims in der Pflicht. Dieser hätte die alte Dame besser vor Stürzen schützen müssen. So habe es das Heim versäumt, Gertrude W. in ihrem Bett zu „fixieren“ oder zumindest die Bettgitter hochzufahren. Nicht einmal eine Hüftschutzhose, die die Gefahr von Brüchen bei einem Sturz vermindert, sei der Rentnerin angezogen worden. Die AOK verwies darauf, dass Frau W. in den Jahren 1994 bis 1998 bereits drei Mal mit erheblichen Verletzungsfolgen gestürzt war.

In der Verhandlung wehrte sich das Heim gegen die Vorwürfe. „Der verbleibende Freiraum gebrechlicher Menschen darf nicht weiter eingeschränkt werden“, sagte der Anwalt des Heims, Joachim Kummer. „Die Würde der Menschen muss gewahrt bleiben.“ Bettgitter seien eine freiheitsbeschränkende Maßnahme, die das Vormundschaftsgericht genehmigen müsse. AOK-Anwalt Reiner Hall kritisierte dagegen die „Verteufelung des Bettgitters“. Alte Menschen könnten wie Kinder werden, und diese würden auch zu ihrem Schutz in ein Gitterbett gelegt.

Der 3. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat gestern dem Heim Recht gegeben. Im Fall von Frau W. habe kein „hinreichender Anlass“ bestanden, die Bewohnerin im Bett zu fixieren oder das Bettgitter hochzufahren. Außerdem sei auch das „Anlegen“ von Protektorhosen nicht notwendig gewesen, weil im Prozess unklar blieb, mit welchem Grad an Wahrscheinlichkeit damit ein Knochenbruch hätte verhindert werden können.

Der Vorsitzende Richter Wolfgang Schlick bezeichnete die Entscheidung als Grundsatzurteil, weil Krankenkassen angesichts ihrer finanziellen Engpässe immer häufiger versuchten, Kosten auf die Heime abzuwälzen. Beobachter gehen davon aus, dass bundesweit Tausende ähnlicher Klagen anhängig sind.

Besonders klar ist die BGH-Entscheidung allerdings nicht. Die Schutzpflichten des Heimes, so heißt es im Urteil, seien „auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen begrenzt, die mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand realisierbar sind“. Maßstab müsse „das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare sein“. Die Würde und die Selbständigkeit der Bewohner seien zu wahren.