Traum von der perfekten Synthese

Der Produzent Nitin Sawhney akzeptiert keine Genre-Schubladen. Auf seinem Album „Philtre“ sucht er wieder nach der Weltformel

Von THOMAS WINKLER

Das böse Wort mit W mag Nitin Sawhney nicht mehr hören. „Kategorien wie Weltmusik“, sagt er, „sind doch dämlich“. Tatsächlich lösen sich alle Kategorien auf, wenn man sein neues Album „Philtre“ (V2) hört: Irgendwo zwischen Bollywood-Melodien und Flamenco-Gitarren, zwischen TripHop und Jazz, HipHop-Beats und Rock-Klischees bricht sich da nach dem Willen des Erschaffers eine schöne neue Welt Bahn: „Musik ist eine universelle Sprache“, sagt Sawhney. Und meint: Musik, seine Musik, verbindet die Menschen, indem sie ihre Unterschiede miteinander versöhnt. Er weiß selbst: „Das ist eine sehr einfache Botschaft.“

So einfach die Botschaft, so komplex ist die Musik, die sich auch auf dem siebten Album des Komponisten, Multiinstrumentalisten und Produzenten aus London wieder aus Vergangenheit und Lebenslauf des bald 40-Jährigen nährt. In den 70er-Jahren wuchs Nitin Sawhney als Spross indischer Einwanderer in Rochester, Kent, auf, das damals eine Hochburg der rechtsradikalen National Front war. Als einziges Kind asiatischer Herkunft an seiner Schule erlebte Sawhney den alltäglichen Rassismus hautnah. „Das ist mein Erbe, mein Background, das ist ein Teil von mir“, sagt er heute. Aus solchen Erfahrungen könne „eskapistische Musik entstehen. Oder eben Musik, die sich damit beschäftigt“. Wobei offen bleibt, welche der beiden Zuschreibungen auf ihn zutrifft.

Zu Hause wuchs Nitin Sawhney mit den bildungsbürgerlichen Idealen seiner Eltern auf, als eine Art Weltbürgerkind: Nitins Mutter hatte in Indien Tanz studiert, sein Vater beschallte die Wohnung mit Musik aus der Heimat. Mit fünf Jahren ließen ihn die Eltern klassisches Klavier lernen, später Flamenco-Gitarre und Jazzpiano, sogar Tablastunden im örtlichen Tempel wurden organisiert.

Später spielte Sawhney in einer Comedy-Truppe namens Secret Asians, die schließlich von der BBC für eine Fernsehshow verpflichtet wurde. Er arbeitete als Journalist, schrieb Filmsoundtracks und klassische Musik, begann als DJ Platten aufzulegen. Als Produzent arbeitete er mit prominenten Namen wie Sinéad O’Connor oder Sting, und trat mit großem Orchester und der Gitarristenlegende Jeff Beck in der Royal Albert Hall auf. Spätestens seit dieser Zeit ist Sawhney im Vereinigten Königreich ein Star und nennt Paul McCartney einen „ziemlich guten Freund“.

All das kann man auf „Philtre“ hören. Der Weg darauf ist kurz von einer staubigen Straße in Bombay, die von einem scheppernden Radio beschallt wird, bis in die Chill-out-Lounge eines angesagten Clubs einer beliebigen westeuropäischen Metropole. Globalisierung ist trotzdem ein weiteres Wort, auf das Sawhney allergisch reagiert. Als „Produkt der Globalisierung“, wie sich die aus Sri Lanka stammende M.I.A. nennt, neuester Star der Londoner Grime-Szene, würde Nitin Sawhney sich nie bezeichnen: „Ich bin ein Produkt der Offenheit“, sagt er stattdessen.

Sawhney will nichts, schon gleich gar nicht Musik „über Nationalitäten kategorisieren“. Vielmehr will er auf seinen Platten „verschiedene Menschen mit verschiedenen Denkansätzen zusammenbringen und eine gemeinsame Ausdrucksform finden“ lassen.

Man könnte Sawhneys sensibel konstruierte Songminiaturen, die wie selbstverständlich zwischen Ost und West hin und her wandern, als eklektizistisch abtun. Mitunter mögen sie auch so artifiziell und konstruiert klingen wie die, die manische Einzelgänger weltweit in ihren stillen Kämmerchen auf PCs zusammenschrauben. Doch fast jeder Ton auf seinen Alben wird von Menschenhand eingespielt.

Für seine Soundideen scheut der Perfektionist Sawhney weder Kosten noch Mühe: Für sein vorletztes Album „Prophesy“ brauchte er insgesamt 240 Musiker und Reisen in sechs Länder, ein egomanisches Mammutprojekt. Bei „Philtre“ hielt sich der Aufwand vergleichsweise in Grenzen. Nichtsdestotrotz geben sich auch hier wieder allein ein gutes Dutzend Gastvokalisten das Mikro in die Hand: Unter anderem Reena Bhardwajdie, die, obschon in England geboren, schon manchen Bollywood-Hit eingesungen hat, sowie der New-Soul-Dandy Vikter Duplaix aus Philadelphia und die Flamenco-HipHop-Crew Ojos de Brujo aus Spanien. Und schließlich trägt Sawhneys Mutter Saroj ein selbst verfasstes Gedicht vor über eine Frau, die am Ufer des Ganges entlanggeht.

Die Gefahr, sich in Klischees zu verlieren, sieht Sawhney gleichwohl nicht, und will sie auch nicht sehen: „Ich respektiere diese Musik. Ich benutze sie nicht, um modisch oder trendy zu wirken“, erklärt er kategorisch. Die Vermutung, dass der durchschnittliche Konsument da womöglich weniger fein unterscheidet, treibt ihm ebenso den Unwillen in die Stimme wie die ständigen Versuche britischer Medien, ihn in musikalische Modetrends wie den vor einiger Zeit so angesagten „Asian Underground“ einzureihen: „Was soll denn das für eine Kategorie sein? 57 Prozent der Weltbevölkerung sind asiatisch!“

Selbst den aktuellen Boom indischer Kultur, ihren wachsenden Einfluss auf Mode, Film und Musik beobachtet er daher skeptisch: „Kulturellen Wandel auf Modewellen zu reduzieren ist sehr gefährlich, denn es geht dabei um Menschen. Sind Afrikaner gerade angesagt? Kommen nächstes Jahr die Inder wieder aus der Mode?“