: Das Paradies der Arbeit
Die Arbeit ist uns ans Herz gewachsen. Buchstäblich – und mit dem tödlichen Ernst einer Koronarerkrankung. Starben früher die Menschen, weil sie zu viel arbeiteten, so sterben sie heute daran, dass ihnen die Arbeit fehlt. Was in den Sechzigerjahren unter dem betulichen Namen „Managerkrankheit“ firmierte – das seelische und körperliche Leiden unter übermäßiger Arbeitsbelastung –, findet heute sein Pendant auf der anderen Seite der Beschäftigungsskala: Immer mehr Ärzte melden bedrohliche Krankheitszeichen bei jenen, denen die Arbeit abhanden gekommen ist. In Zeiten von Hartz IV steigt die Quote von Depressionen und Angstzuständen dramatisch. Psychotherapeutische Ambulanzen gehen von einem Zuwachs von 20 bis 30 Prozent aus. Ärzte, die in sozialen Brennpunkten praktizieren, reden unverblümt von einer Verdoppelung der sozialen Ängste bei den Betroffenengruppen. Die psychosomatischen Folgen sind noch kaum abzuschätzen.
Es ist unübersehbar: Wir leben nicht nur von der Arbeit, sondern längst schon so sehr für sie, dass wir krank werden, wenn sie uns entzogen wird. Wir sind, ohne es recht zu merken, arbeitssüchtig geworden. Dass Arbeit den Status eines Suchtmittels bekommen kann, bezeugt der Terminus „workaholic“. Doch es geht gar nicht um ein paar pathologisch Arbeitswütige: Unsere ganze Kultur hängt, wie der Junkie an der Nadel, an der Droge Arbeit. Nur sie scheint uns den lebenswichtigen Stoff zuführen zu können, aus dem wir Bedeutung, Selbstachtung, Identität und Zugehörigkeitsgefühl beziehen. Die Arbeit ist – als Erwerbsarbeit – mit solcher Intensität in unser Leben gedrungen, dass ihr unter den prägenden kulturellen Faktoren allenfalls noch die Religion gleichkommt. „Ora et labora“, Bete und arbeite: Fast trotzig ist in dieser monastischen Parole der Gottesdienst vor das profane Schuften gesetzt.
Dabei war für das christliche Denken Arbeit ursprünglich Strafe. Adam und Eva wurden als Folge ihres Ungehorsams dazu verdammt, sich die Mittel zum Leben künftig „im Schweiße des Angesichts“ zu verdienen. In der nachparadiesischen Welt galt der Kernspruch des heiligen Paulus: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.“ Fast zweitausend Jahre später hat der entlaufene Priesterseminarschüler Josef Stalin persönlich dafür gesorgt, dass der Spruch in die sowjetische Verfassung von 1936 aufgenommen wurde.
Den Abgrund zwischen dem neutestamentarischen Diktum und seiner konstitutionellen Funktion im „Arbeiterstaat“ Sowjetrusslands füllt die zwischenzeitlich eingetretene kulturelle Um- und Neubewertung der Arbeit. Was für das antike Denken Kennzeichen der Unfreiheit – im aristotelischen Athen war Arbeit schlicht eine Angelegenheit der Sklaven – und dem christlichen Mittelalter suspekt war, begann mit dem Aufstieg des Kapitalismus eine wahrhaft atemberaubende Karriere. Der englische Philosoph John Locke entdeckte in der Arbeit die Keimform des Eigentums, Adam Smith erklärte sie zum Ursprung des Reichtums, und niemand anderer als Karl Marx vollendete dieses kulturelle Upgrading, indem er sie zur Quelle aller Produktivität und zum spezifischen Kennzeichen der Menschlichkeit des Menschen erklärte. Marx’ Entwurf, Prototyp aller modernen Arbeitstheorien, enthält indes einen bemerkenswerten Widerspruch, dem heute, im Zeichen der auslaufenden Arbeitsgesellschaft, neue Aspekte abzugewinnen wären. Sein Ansatz, Arbeit als „eigentlich menschliche“ Tätigkeit und unverzichtbares anthropologisches Sinnbildungsreservoir zu exponieren, will nämlich nicht recht zum Ziel der sozialen Revolution passen: dem Ziel, die Arbeit abzuschaffen. Das von Marx anvisierte „Reich der Freiheit“ ist ähnlich arbeitsjenseitig gedacht wie die aristokratische Praxis der Antike.
Diese eigentümliche Ambiguität von Arbeit als höchstem Wert und strafähnlicher Bürde durchzieht seither alles Denken über die vorherrschende menschliche Tätigkeitsform, sozusagen systemübergreifend. Auf kapitalistischem wie auf kommunistischem Terrain gibt es eine je eigene Arbeitsromantik, die von der ernüchternden Prosaik des Produktionsalltags empfindlich konterkariert wird. Das kommunistische Arbeitspathos entlarvt sich an disziplinarische Maßnahmen wie jener berühmten „Bewährung in der Produktion“ für wankelmütige Intellektuelle – deutlicher kann der Strafcharakter von Arbeit kaum artikuliert werden. Die liberal-kapitalistische Utopie des „Sich-Hocharbeitens“ ist das Umkehrbild davon – und entwertet sich selbst durch die immensen sozialen Kosten des Aufstiegs.
An den totalitaristischen Extremen des vergangenen Jahrhunderts schließlich wird der Doppelcharakter des Programms „Emanzipation durch Arbeit“ vollends deutlich. Der propagandistisch gefeierte „Held der Arbeit“ ist, ob er nun Stachanow oder Hennecke heißt, letztlich einer, der durch „Normübererfüllung“ seine Genossen zu immer größerer Schufterei verdammt – alles andere als eine Gestalt der Befreiung. Auf kapitalistischer Seite blieb es den Nazis vorbehalten, diese Pervertierung von „Arbeitsethos“ zu überbieten. Die Parole „Arbeit macht frei“ am Tor des Konzentrationslagers diente als zynisches Spruchbanner für den Massenmord, der unter der gruselig bürokratischen Formel „Vernichtung durch Arbeit“ rubrifiziert wurde.
Erst heute, da sie ein knappes Gut geworden ist, wird die kulturelle Überhöhung von Arbeit in ihrer ganzen Ambivalenz kenntlich. Die Konfrontation unserer idealisierten Vorstellung von Arbeit mit der Tatsache, dass sie uns auszugehen scheint, ist der nachhaltige Schock der spätmodernen Gesellschaften. Mit Erschrecken stellen wir fest, dass wir über Generationen sozusagen „fehlsozialisiert“ worden sind. Unsere symbolische Ausstattung erscheint angesichts der Krise der Arbeitsgesellschaft nicht mehr zeitgemäß. Was sollen wir sinnvoll tun, wenn uns der zentrale Bezugspunkt des Lebens fehlt? Mit der Krise kommt das Ende des Bedeutungsmonopols in Sicht, das wir der Arbeit als Stifter von „Sinn“ und „Identität“ so sehr eingeräumt haben, dass wir, wie Hannah Arendt anmerkte, „kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten“ kennen. Tatsächlich tun wir uns schwer damit, uns vom Paradigma der Erwerbsarbeit zu lösen und ihr anderes entgegenzusetzen als eine – häufig leer laufende – „Freizeit“. Das bekannte Paradox spricht für sich selbst: Je mehr die Arbeit auf der Erwerbsebene verschwindet, desto stärker dringt sie ins Privatleben. Von der Beziehungsarbeit über die Regenerationsarbeit bis hin zur Trauerarbeit: Es gibt kaum noch einen Intimbereich, der nicht kompensatorisch durch das Suffix „Arbeit“ aufgewertet wird.
Gewiss treffen diejenigen, die angesichts der Krise der Erwerbsarbeit auf mögliche utopische Potenziale von Arbeit verweisen, einen wichtigen Punkt. Ohne Zweifel macht es Sinn, sich Gedanken über eine Renaissance des aristotelischen Poiesis-Ideals und die Möglichkeiten zu machen, die sich aus erzwungener „Arbeitsfreiheit“ ergeben. Gleichwohl blamieren sich solche Überlegungen notwendigerweise an der Realität einer Kultur, die ihre Teilnehmer jahrhundertelang dazu angehalten hat, die Erwerbsarbeit als Zentrum ihres Lebens wahrzunehmen. Sie ist nach wie vor das zentrale Integrationsmedium, sowohl hinsichtlich der sozialen Verortung als auch der psychischen Balance des Individuums. Ihr Verlust wirkt – analog zum grundlegenden sozialisatorischen Defizit unserer Kultur, dass wir in Gemeinschaften geboren werden und gezwungen sind, in Gesellschaften zu leben – wie der Ausschluss vom Leben selbst.
Die eigentliche Drohung der Arbeitslosigkeit ist, stärker noch als der ökonomische Abstieg, die Gefahr „aus der Welt zu fallen“, von der Gemeinschaft der Produktiven ausgestoßen zu werden. Die oben zitierte biblische Verknüpfung von Arbeit und Essen ist der Prototyp einer Exklusionsdrohung, die am Ende der Arbeitsgesellschaft apokalyptische Dimensionen annimmt. Wenn die Eisscholle, auf der wir treiben, an den Rändern immer schneller abschmilzt und brüchig wird, wächst die Angst abzustürzen und zu ertrinken. Das ist der eigentliche Sinn des Bilds von der „Neuen Mitte“: Sie bezeichnet in der Zweidrittelgesellschaft den privilegierten Platz der „Arbeitsbesitzer“. Nur sie sind vor dem tödlichen Wegbrechen der Ränder geschützt.
Arbeit ist und bleibt das soziale Inklusionsmedium schlechthin: Wir arbeiten, um dazuzugehören, um nicht den sozialen Tod erleiden zu müssen. In Zeiten der Krise wird dieses Dazugehören identisch mit Überleben. Spätestens, seitdem sich die Utopie einer „anderen Gesellschaft“ verbraucht hat, die den randständigen „Erniedrigten und Beleidigten“ eine neue Welt versprach. Der Marx’sche Proletarier als Träger eines alternativen geschichtsphilosophischen Entwurfs war auch die Kristallisationsfigur eines anderen Typus von Zugehörigkeit: Seine Randständigkeit war eingebettet in die Solidargemeinschaft derer, die sich als Gegenmacht mit dem Ziel begriffen, die Herrschaften von ihren privilegierten Plätzen zu verjagen.
Überhaupt haben sich die Veränderungen des Arbeitsbegriffs in den vergangenen hundert Jahren vielleicht am deutlichsten in ihrem Subjekt, der Gestalt des Arbeiters niedergeschlagen. Fast emphatischer noch als Marx hat Ernst Jünger in der Gestalt des Arbeiters das „Subjekt der Veränderung“ der untergehenden alten Welt gesehen und ihn als „Träger eines neuen Menschenbilds“ begriffen. Der Arbeiter ist für Jünger als Gegentypus des erschlafften Bürgertums eine sozial-ontologische Größe: „Ein Arbeiter also, auf eine einsame Insel verschlagen, würde ebenso sehr Arbeiter bleiben, wie Robinson ein Bürger geblieben ist.“ Ähnlich wie Marx’ revolutionsbereiter Proletarier repräsentiert der Arbeiter bei Jünger eine neue Idee von „Gemeinschaft“: Beide sind nicht Individuum im herkömmlichen Sinn, sondern, als Subjektform der Substanzkategorie Arbeit, Exemplar einer organischen Masse – oder Klasse – mit besonders ausgeprägten, den alten Individualismus überwindenden gemeinschaftlichen Bindungen.
Diese machtvolle Gestalt des Arbeiters fand nach 1945 keinen Platz mehr auf der nach US-amerikanischem Vorbild neu gestalteten westdeutschen Bühne. Der Proletkult blieb dem feindlichen Zwillingsbruder im Osten überlassen. Gegen die „arbeiterliche Gesellschaft“ (Wolfgang Engler) der DDR, die wenigstens auf der Ebene der Propaganda das Pathos des „Werktätigen“ pflegte, versuchte die Bundesrepublik mit der Idee der „Sozialen Marktwirtschaft“ und dem Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ sich bewusst vom Denken in Klassengegensätzen zu verabschieden. Nicht der (klassenbewusste) Arbeiter, sondern der (interessenbewusste) Arbeitnehmer wurde zur Symbolfigur einer Gesellschaft, die nach der Erschütterung des Zivilisationsbruchs sich weder auf intakte bürgerliche Werte noch auf ein kollektives Ideal stützen konnte.
Der Arbeitnehmer, der virtuell die alte ideologisch besetzte Differenz von Arbeiter und Angestelltem beseitigt, wurde zur Leitgestalt einer auf Sozialpartnerschaft, Wohlfahrt und Massenkonsum aufbauenden Gesellschaft. Wir sind, so die lauthalse Ideologie der neuen deutschen „Leistungsgesellschaft“, allesamt Arbeitnehmer, lediglich durch Hierarchie- und Verantwortungsebenen voneinander getrennt. Kanzler Helmut Schmidt (SPD) pflegte sich als „leitender Angestellter“ des Staates zu bezeichnen. Die Entheroisierung des Arbeiters zum Arbeitnehmer bedeutete eine Entsubstanzialisierung des Arbeitsbegriffs zugunsten einer instrumentellen Zweck-Mittel-Haltung („Haste was, biste was!“) und die Schwächung der aus dem emphatischen Arbeitsbegriff folgenden sozialen Bindungen. Mit der Aufschwungperiode der Nachkriegsgesellschaft begann das Sterben der klassischen Arbeiterkultur.
Heute können wir analog das Ende dieser „Arbeitnehmergesellschaft“ (M. Rainer Lepsius) konstatieren. Im Abschied von der Illusion steten wirtschaftlichen Wachstums und Vollbeschäftigung hat sich eine Gesellschaft herausgebildet, deren Schlüsselfigur der „Arbeitsbesitzer“ ist. Der Arbeitsbesitzer verfügt weder über das Sendungsbewusstsein und die starke Gemeinschaftsbindung des klassischen, politisch organisierten Arbeiters noch über das klassenübergreifende inklusionistische Selbstbewusstsein des Arbeitnehmers. Er hat im Gegenteil gelernt, sich selbst exklusionistisch zu begreifen. Die Tatsache, dass er Arbeit besitzt, ist ihm Kennzeichen einer profanen Erwähltheit, deren Logik er nicht genau versteht, die ihn aber diffus dankbar stimmt.
Arbeitsbesitz ist ein – aufatmend angenommenes – Schicksal, das sich nur noch sekundär mit eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in Verbindung bringen lässt: Jeder Arbeitsbesitzer kennt einfach zu viele gleich oder besser Qualifizierte, die nicht der Segnung teilhaftig werden, die ihm widerfahren ist. Ihm ist unklar klar: Die eigene Erwähltheit schließt andere aus. Der Arbeitsbesitzer ist ebenso glücklicher wie ängstlicher Teil einer imaginären Gemeinschaft Gleichartiger. Seine Bindung an sie ist groß, denn er möchte um keinen Preis aus ihr herausfallen. Aber sie ist andererseits selber imaginär, denn es gibt keine normative, sondern nur eine serielle Gemeinschaftssubstanz: Arbeitsbesitzer sind und empfinden sich untereinander als virtuelle Konkurrenten. Sie wissen, dass in den eigenen Reihen genügend andere bereit stehen, ihnen den heilbringenden Besitz streitig zu machen, wenn sich die wunderbare Substanz Arbeit demnächst noch einmal verringert. Was sie bindet, ist letztlich eine Art negatives religiöses Gefühl: die Gnade, nicht ausgestoßen zu sein, einen Platz nicht ganz am Rand der Scholle gefunden zu haben.
Damit schließt sich, in der Umkehrung der alten christlichen Parole, der Kreis: Labora et ora, arbeite und bete! Bete darum, weiter arbeiten zu dürfen. Bete, nicht aus der Welt zu fallen. Beschwörungsarbeit, die wirklich ans Herz greift. Arbeit und Beten haben sich heute aufs Neue verschwistert: als letztverbliebene Mittel zur psychischen Abwehr all der erzwungenen Passivität, der Ängste und Erfahrungen von Hilflosigkeit, denen wir alltäglich ausgesetzt sind. Dies wahrzunehmen könnte helfen, den Blick für eine neue Bewertung von Arbeit zu öffnen.