: Taxifahrt nach Abidjan
Die Euphorie nach der Unabhängigkeit und die Geburtsstunde der „Weltmusik“-Stars: Die CD-Reihe „Golden Afrique“ erinnert an jene Epoche, als die Musik aus Westafrika sich noch selbst genügte
VON MAX ANNAS
Abidjan muss eine anziehende Metropole gewesen sein. Wer einst in Westafrika Musik machen wollte, der ging in die nächste größere Stadt – und von dort oft weiter nach Abidjan oder Dakar. Abidjan, die Hauptstadt der Elfenbeinküste, galt lange Zeit als einzige Metropole ohne erkennbar eigenen Musikstil: Vielleicht war die Zahl der zugereisten Musiker einfach zu groß, um sich auf einen gemeinsamen Nenner zu einigen. In Dakar, der Hauptstadt des Senegal, trafen die Neuankömmlinge dagegen auf eine Szene, die schon über einen spezifischen, eigenen Stil verfügte: Doch was im Senegal „Salsa“ genannt wurde, bestand in Wahrheit aus der Aneignung vieler Stile, vor allem kubanischer Prägung.
„Golden Afrique“ nennt sich ein groß angelegtes Projekt, das längst fällige Geschichtsschreibung in Sachen afrikanischer Popmusik betreibt. Es erscheint pünktlich zum 25. Geburtstag des Network-Labels aus Frankfurt. Die kleine Plattenfirma hat in den letzten Jahren mit ihren buchformatigen Doppel-CD-Editionen großen Erfolg gehabt, die vom Balkan bis Argentinien, von der Sahara bis nach Indien fast jeden Fleck auf dieser Erde abdeckten. Auch „Golden Afrique“ hat nun dieses Format, das in kein handelsübliches CD-Regal passt. „Mit diesem Projekt sind wir zurückgekehrt zu unseren Anfängen, als wir Kassetten mit afrikanischer Musik rausgebracht haben“, sagt Christian Scholze, einer der Initiatoren.
Zeitalter des Optimismus
Damals, 1980, war der Stern Abidjans schon am Sinken. Aber wer mit den gängigen Medien-Bildern von Afrika aufgewachsen ist, der wird sich ohnehin nicht viel unter einem „goldenen Afrika“ vorstellen können. Doch in den Jahren nachdem die meisten Staaten des Kontinents ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, muss ein unglaublicher Optimismus geherrscht haben, greifbar quer durch alle Klassen und Regionen. Als der erste Präsident von Ghana, Kwame Nkrumah, Ende der 50er-Jahre ankündigte, sein Land werde den Rückstand zu den industrialisierten Nationen innerhalb weniger Jahrzehnte aufholen, wurde er quer durch ganz Afrika als ernsthafter Visionär gefeiert. Diese Aufbruchsstimmung schlug sich auch in der Kultur nieder: vor allem in der Musik, denn die war den allermeisten Menschen zugänglich.
Zum Optimismus gesellte sich eine hemmungslose Offenheit, neue und fremde Musikstile zu adaptieren. Hinzu kam, dass seit dem Ende der 60er-Jahre der technische Fortschritt es erlaubte, auch längere Songs über Single-Länge hinaus zu veröffentlichen. Und schließlich entwickelten sich vor allem in den Metropolen die notwendigen Strukturen: Clubs und Studios.
„Golden Afrique“ nimmt sich der Musik dieser Ära an. Bald soll die zweite Folge der Edition erscheinen, die auf insgesamt fünf Ausgaben angelegt ist. Der Kongo – Kinshasa, Brazzaville und die Auswirkungen des Rumba auf diese Gegend, die der Ethnologe den Bantu-Gürtel nennt – soll das Thema der nächsten „Golden Afrique“-Kompilation sein. Dann folgen das südliche Afrika, der Osten und zuletzt das anglophone Westafrika, also Ghana und Nigeria.
Zwischen Staat und Markt
Die erste Ausgabe aber konzentriert sich auf jenen Teil Westafrikas, der einst unter französischer Kolonialherrschaft stand – ein Einfluss, der bis heute fortwirkt. Dort gab es zwei komplett unterschiedliche Modelle, in denen Popmusik gedeihen konnte: In den sozialistischen Staaten Mali und Guinea, später auch im kleinen Guinea-Bissau, wurden die Bands vom Staat mit Instrumenten versorgt und bezahlt. Legendäre afrikanische Orchester wie „Bembeya Jazz National“ in Guinea oder die „Rail Band de Bamako“ wurden in diesem System groß, und der berufliche Auf- oder Abstieg eines Ensembles wurde durch regionale Ausscheidungen oder Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Kapellen besiegelt. In den kapitalistischen Ländern hingegen mussten sich die Musiker einem anderen Wettbewerb stellen, dem Markt. „Sie hatten den permanenten Druck, gut zu sein“, meint Günter Gretz, der die Serie mit geplant hat. Und sie waren gut.
„Damals konnten die Bands aus dem Vollen schöpfen“, so Gretz. „In Westafrika hatten viele Bands vier Bläser, vier Sänger, vier Perkussionisten und vier Gitarristen. Es gab Konkurrenz an jeder Ecke – und das Erstaunliche war, dass all diese Bands ihre Musiker ernähren konnten. Das Zeitalter war also nicht nur musikalisch ein goldenes, sondern auch in materieller Hinsicht.“
Abidjan war der Magnet. In den 70er-Jahren war die Metropole an der Elfenbeinküste zum Symbol des afrikanischen Aufschwungs geworden. Begünstigt durch steigende Kakaopreise und autoritär geführt vom einstigen Unabhängigkeitskämpfer Félix Houphouët-Boigny, wurde das Land zum Ziel vieler Wirtschaftsflüchtlinge.
Manche suchten auf den Feldern ihr Auskommen, andere in der Stadt. Insbesondere die Musiker suchten dort ihr Glück, zumal sie in der Heimat kaum eine Perspektive hatten.
Dass die Musiker aus den umliegenden Ländern dort ihre Zukunft sahen, lag nahe: Obervolta, Togo, Benin, Niger und der Tschad waren sehr arm. In Abidjan dagegen winkte der Ruhm: Der Sänger Amadou Balaké etwa kam damals aus Burkina Faso, damals noch Obervolta und ein extrem strukturschwaches Land, an die Elfenbeinküste – und gilt bis heute in seiner Heimat als größter Popstars seines Landes.
Sein Stück „Taximen“ ist einer der bezauberndsten Tracks auf „Golden Afrique I“. Amadou Balaké beschreibt darin, dass der gemeine Taxifahrer aus Abidjan gar nicht nett ist, weil er sich weigert, eine schwangere Frau zum Krankenhaus zu fahren. Der Song verfügt über einen federleichten Beat, eine artistische Chefgitarre und einen herrlich moralischen Kommentar des Sängers, der die Taxifahrer der Stadt auffordert, doch bitteschön den Massen zu dienen.
Als er mit diesem Stück schlagartig berühmt wurde, hatte Balaké bereits eine recht typische afrikanische Musikerbiografie hinter sich: Nach Jobs in diversen Hotelbands in Ouagadougou, der heutigen Kapitale von Burkina Faso, und Aufnahmen in verschiedenen Ländern geriet er irgendwann an den Star-Produzenten Aboudou Lassissi aus Abidjan, der ihn schließlich zu Plattenaufnahmen nach Nigeria schleppte, weil Abidjan zwar eine Menge Jobs für Musiker bot, aber keine angemessenen Studios aufweisen konnte.
Späte Karriere auf CD
Auf seinem eigenen Label „popular african music“ hat Günter Gretz nun ein ganzes Album von Amadou Balaké veröffentlicht, auf dem auch „Taximen“ zu hören ist. Es ist die erste CD von Amadou Balaké, der auch darin ein typisches Beispiel für afrikanische Musiker seiner Generation ist: Denn viele haben oft eine veritable Veröffentlichungsgeschichte in LPs und Cassetten hinter sich und gelten im eigenen Land als Superstars, haben aber noch nie in ihrem Leben eine CD veröffentlicht.
Gretz nennt seine Serie, in der er zwei weitere historische Aufnahmen herausbringt, „african dancefloor classics“. Und im Sommer wird Gretz mit den Afro Salseros eine Band auf Deutschland-Tournee schicken, die zum größten Teil identisch ist mit „Nr. 1 de Dakar“, den ewigen Rivalen des Orchestre Baobab um die Krone der besten Band im Senegal. Damals, in den Siebzigerjahren.
Der Erfolg des wiedervereinigten Orchestre Baobab hat gezeigt, dass es für diese Musik ein Publikum gibt. Und „Golden Afrique I“ ist eine musikalische Schatzkiste, die auch Eingeweihte mit einigen Tracks überraschen wird: Zwar sind mit Youssou N’Dour und seiner frühen Band Etoile de Dakar Songs, Salif Keita und seinen drei großen Combos Rail Band, Ambassadeurs du Motel und Ambassadeurs International sowie Miriam Makeba, die in Guinea im Exil lebte, gleich mehrere große Namen vertreten. Aber großartige Popmusik gab es eben auch in Burkina Faso, in Gambia oder in Guinea-Bissau, wie „Golden Afrique“ zeigt.
Ende der 70er-Jahre setzte sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die eigenen Regierungen oft nicht besser waren als die Kolonialverwaltungen. Die wirtschaftlichen Blütenträume hatten sich nicht erfüllt, und die Zeit der großen Orchester endete mit der Pleite von Clubs, Sponsoren und ganzen Regierungen.
Zum Glück ereignete sich in dieser Zeit eine technische Revolution. „Die vier Bläser wurden von Keyboard und Synthesizer ersetzt“, erklärt Günter Gretz, „die vier Perkussionisten vom Drumcomputer, und vier Gitarristen brauchte auch kein Mensch mehr.“
Bis in die 80er-Jahre hinein genügte afrikanische Popmusik sich selbst. Dann wurde sie für die „Weltmusik“ entdeckt, und aus den Trümmern der großen Orchester stiegen jene Stars auf, die bis heute für Afrika repräsentativ sind: Namen wie Youssou N’Dour, Salif Keita und Mory Kanté, die einst aus Westafrikas großen Bands hervorgingen.
Heute scheint die Zeit reif zu sein, den Blick zurück zu werfen, ohne ihn dabei nostalgisch zu verklären.