BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Lockruf der Wildnis, Familienpackung

Klar, mit Kindern erlebt man jeden Tag eine Menge Abenteuer. Trotzdem fehlt uns dabei der gewisse Kick

10.000 Kilometer ist Joachim Held mit dem Fahrrad durch Südamerika gestrampelt, über himmelhohe Pässe und durch knochentrockene Wüsten. Im Land der Inka schneite er in den Bergen ein. Und mit seinem Fahrrad „Emma“ geriet er in eine Bauerndemonstration, bei der Panzer auffuhren und Schüsse fielen. Anna sitzt mit Helds Buch „Abenteuer Anden“ im Bett und liest fasziniert den Reisebericht. „Ein ganzes Jahr auf Achse,“ sagt sie. „Ohne Kinder. Ohne Geschrei, ohne nächtliches Geschaukel, ohne Zankereien beim Abendbrot. Kannst du dir das noch vorstellen?“

Natürlich kann ich mir das vorstellen. Vor allem jetzt, wenn es Sommer wird, sitze ich seufzend auf dem Klo und studiere den „Globetrotter“-Katalog.

Und denke daran, wie schön es wäre, mal wieder für ein paar Wochen eigenfüßig durch den Schlamm zu waten und sich nur um die eigene Darmtätigkeit zu kümmern. Tagträume: drei Wochen Wildnis in Lappland. Drei Monate auf dem Pacific Crest Trail zwischen Mexiko und Kanada. Kajakfahren an der Küste von Alaska. Und zwischen mir und dem Mont Blanc steht es auch immer noch 0:2.

„Discover wildlife – have kids“ steht bei unseren Freunden an der Tür. Aber das trifft nur die Hälfte. Natürlich ist es spannend, was die Kinder so an Gewimmel und Gewürm mit nach Hause bringen. Aber wer Kinder hat, verzichtet für ein paar Jahrzehnte auch auf bestimmte Dinge: auf Schlaf. Auf selbstbestimmt durchgemachte Nächte. Auf Ferien in der Wildnis.

„Warum nehmt ihr die Kinder nicht mit in die Natur?“, fragt der kinderlose Frank am nächsten Abend. Er bereitet sich gerade auf den Trekkingurlaub in Nepal vor. Klar, ich habe sie erlebt: Das Pärchen mit dem fünf Monate alten Säugling am Mount McKinley, die Fünfjährige mit dem Rucksack auf dem Kungsleden in Lappland.

Natürlich könnten wir auch mit unserer Kinderschar in die Natur aufbrechen. Für Tina bräuchten wir bloß eine eigene Sänfte und Eisbuden an jeder Ecke. Baby Stan würde mit seinem nächtlichen Zahnungs-Kreischen ganze Berghütten vom Schnarchen abhalten. Und Jonas könnte mit seinen sechs Jahren locker bei Bergtouren mitlaufen, dachte ich immer. Bis ich vor ein paar Jahren kurz hinter Oberstdorf die Plakette für den zu Tode gestürzten Vierjährigen sah.

„Aber das ist es doch allemal wert“, tröstet mich Frank. „Wenn ich Kinder hätte, wäre ich gern zu Hause.“ Natürlich sind meine drei Kinder es wert, geruhsame Urlaube am Bodensee und in Omas Garten statt auf dem K2 zu verbringen. Aber man wird doch noch ein bisschen jammern dürfen. Ohnehin ist Frank nur froh, dass ich ihn mit meinen Dia-Abenden verschone. „Und in 20 Jahren kannst du mit den Kindern die tollsten Touren machen“, sagt er und wuchtet zur Probe seinen Expeditions-Rucksack auf den Rücken. In 20 Jahren? Dann hat wahrscheinlich jede Berghütte einen eigenen Autobahnanschluss. Auch gut – dann fällt mir die Anfahrt im Rollstuhl leichter.

Wandern auf Rädern ist ohnehin bei uns mehrheitsfähig, habe ich gemerkt – allerdings anders, als sich Joachim Held das vorstellt. „Papa, warum gehen wir nicht mal mit einem Motorrad wandern?“, fragte mich letztens Jonas. „Weil das die Tiere vertreibt“, sagte ich. „Aber die können doch zugucken. So wie bei Schumi“, meinte mein Sohn. „Außerdem macht ein Motorrad im Wald die Wege kaputt“, war mein nächster Einwand. „Dann bauen wir eben eine Straße.“ „Aber beim Wandern will man Ruhe haben“, war mein letztes Argument. „Ach so“, sagte Jonas.

„Eine tolle Tour“, sagt Anna, als sie aus ihrem Buch über den Andenstrampler wieder auftauchte. „Aber drei Kinder zu haben ist doch auch ein riesiges Abenteuer.“ Dann schaute sie nachdenklich vor sich hin. „Aber weißt du, was ich noch mehr vermisse als eine Nacht am Kilimandscharo?“

Was konnte das sein? Eine Krokodilsafari in Sandalen? Auf dem Einrad durch Sibirien? Ballonfahren im Hurrikan vor Florida? Anna lächelte verträumt: „Einen einsamen, langweiligen Sonntagnachmittag auf dem Sofa.“

Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zur Erziehung? kolumne@taz.de Morgen: Josef Winkler in der ZEITSCHLEIFE