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Archiv-Artikel

Schonzeit für Füchse

OBERMÜNCHHAUSENER Das Oberhausener Manifest erklärte 1962 den Tod des alten Films und machte damit Furore – schuf aber kaum neues Kino

Edgar Reitz hat Raymond Ruehl in der „Zweiten Heimat“ als Ansgar ein Denkmal gesetzt

VON EKKEHARD KNÖRER

Im Februar 1962 berichtete der Filmkritiker Joe Hembus in der Münchner Abendzeitung, dass „neuerdings zahlreiche Liebhaber des modernen Films ihre Briefe mit einer Aufklebemarke versiegeln, die originellerweise eine Todesanzeige enthält. Die Marke ist aus giftgrünem Papier und trägt die Aufschrift ‚Papas Kino ist tot!‘“ Zehn Tage später waren die meisten dieser Liebhaber des modernen Films beim Festival in Oberhausen versammelt. Lose Gruppen, die meisten kannten sich aus München, man beriet, setzte sich zusammen und verfasste ein Manifest. Viel Inhaltliches stand nicht drin, auf erste eigene Erfolge wird verwiesen, „neue Freiheiten“ werden gefordert, man nahm den Mund, wie in Manifesten üblich, recht voll: „Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen.“ Vatermord plus Aufbruchsrhetorik: „Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.“

Unter dem Manifest stehen 26 Namen. Manche kennt man bis heute. Alexander Kluge natürlich, der Anwalt, der Freund Theodor W. Adornos, ab 1963 Professor an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, Literat und heute einer der letzten Großintellektuellen. Und Edgar Reitz, der mit seinem beachtlichen Erstling „Mahlzeiten“ einen Preis in Venedig gewann, wenngleich der wirkliche Ruhm erst mit den „Heimat“-Filmen fürs Fernsehen kam. Vielleicht noch Peter Schamoni, Silberner Bär für sein Debüt „Schonzeit für Füchse“, er hat dann immerhin recht kontinuierlich weitergedreht. Wer aber kennt Herbert Vesely noch, der aus Wien nach München gekommen war und noch im Jahr des Oberhausener Manifests mit der Böll-Verfilmung „Das Brot der frühen Jahre“ nach Cannes eingeladen wurde?

Der Trickfilmer Wolfgang Urchs hat unter Spezialisten einen Ruf, als einer von Deutschlands wichtigsten Kinderfilmregisseuren wurde Haro Senft soeben mit der Berlinale-Kamera geehrt. Der Rest aber war teils niemals bekannt oder ist heute weithin vergessen. Und den neuen deutschen Spielfilm haben in Wahrheit dann doch eher andere geschaffen, die nächste Münchner Aufbruchsgeneration, Leute wie Fassbinder, Herzog, Wenders oder, weit weniger weltberühmt, Lemke, Thome und Klick.

Gewaltig ist jedenfalls die Diskrepanz zwischen dem bis heute anhaltenden Ruf des Manifests selbst und der Rolle, die die meisten seiner Unterzeichner (eine Frau war nicht darunter) für die deutsche Filmgeschichte dann spielten. Zwar war die erste Reaktion auf das Manifest in der Presse enorm, bald aber überwogen die Anfeindungen von allen Seiten, der Spitzname „Obermünchhausener“ war da noch die harmloseste Bösartigkeit. Natürlich fanden die Freunde von Papas totem Kino das alles überspannt und verkopft, aber auch von der ästhetischen Linken kam schnell viel Kritik. Instruktiv ist nicht nur in dieser Hinsicht die Lektüre des demnächst in der Edition Text + Kritik erscheinenden Bandes „Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen“.

Verspätetes Bauhaus, eine Avantgarde, die sich in der Geste und in Oberflächenfilmereien verliert, so lautet, grob zusammengefasst, das im erwähnten Band nachlesbare Verdikt des wichtigen Intellektuellen Wilfried Berghahn in der Filmkritik schon 1963. Vollkommen falsch lag Berghahn damit nicht. Den Witz, die Bilderstürmerei, das Anarchische der Nouvelle Vague, die Frische, die sich den Einflüssen Hollywoods und anderer populärer Kulturen verdankt, vermisst man in den meisten der Filme recht schmerzlich. Das ist das eine. Das andere ist: Einen Film wie Ferdinand Khittls „Die Parallelstraße“ gibt es auch. In der Filmkritik haben ihn Enno Patalas und Helmut Färber verrissen. Dafür kam er in Frankreich groß raus, sehr zu Recht. Khittl war Matrose, Maurer und Hühnerzüchter gewesen, lernte Kino als Assistent von Luis Trenker, drehte dann Kultur- und Industriefilm-Auftragsarbeiten für die „Gesellschaft bildender Filme“. Von deren Geld machte er 1959 und 1960 mit seinem Kameramann Ronald Martini (auch er ein späterer Manifestunterzeichner) zwei große Weltreisen und brachte ethnografisch anmutende Aufnahmen aus Asien, Afrika, Südamerika mit.

Der Film „Die Parallelstraße“ inkorporiert diese dokumentarischen Bilder. Sie werden jedoch nicht beim Nennwert genommen, sondern durch eine Rahmenhandlung komplett umformatiert. Die Dokumentarbilder sind bunt und auf 16 Millimeter gedreht. Die Bilder der Rahmenfiktion sind schwarz-weiß und sehr scharf. Fünf Männer sitzen an einem Tisch, ein Protokollführer kontrolliert die Einhaltung der Regeln. Die fünf Männer – so viel versteht man, viel mehr dann auch nicht – sollen einen Sinn in die 308 ethnografischen Filmschnipsel bringen. Fünf ernsthafte Männer auf der Suche nach einem Zusammenhang, den man selbst auch nicht herstellen kann. Oft wird das aus der Draufsicht gefilmt – als billiges Verfahren der Oberhausener Scheinabstrahierung hatte Berghahn dieses Mittel beschimpft. Hier aber funktioniert es. Die tollen Texte, die Bodo Blüthner als Kommentartrack der Dokus, als Dialogtrack der verlorenen Männer, verfasst hat, sind nie überdeutlich, locken immer wieder mit Licht am Ende des Tunnels. Nur kommt es nie näher. So gewinnt der Film einen ganz einzigartigen Reiz als durch die Welt reisendes Denkbild, das zwischen Unsinn und Sinn oszilliert und nie auf der einen oder anderen Seite ankommt.

Gerade hat, zum fünfzigsten Jubiläum der Unterzeichnung, Hansjürgen Pohland, der einzige Berliner neben den ganzen Obermünchhausenern, für Arte einen Film über das Manifest abgedreht, eine Dokumentation, für die er die zehn Überlebenden aufgesucht hat. Der Film ist noch nicht fertig, ich fahre trotzdem zum Gespräch in den schönen Berliner Vorort Nikolassee, wo Pohland heute lebt. Er hatte als Produzent große Erfolge, war mit Veselys „Brot der frühen Jahre“ in Cannes, „Die Tote von Beverly Hills“, das von ihm produzierte Spielfilmdebüt des späteren Klimbim-Machers Michael Pfleghar, war Mitte der Sechziger ein Publikumshit. Pohlands eigene Grass-Verfilmung „Katz und Maus“ wurde ein Achtungserfolg, spätere Werke wie die Komödie „Warum die UFOs den Salat klauen“ mit Hildegard Knef und Curd Jürgens, gelten nicht als Höhepunkte deutschen Filmschaffens.

Pohland erzählt, wie er sich später mit dem Fassbinder-Schauspieler Ulli Lommel zusammentat, in L. A. produzierte und über Warhols Factory Jack Kerouac kennengelernt hat, der mit ihm eine Art „On the Road“-Fortsetzung drehen wollte: Mit dem Fahrrad durch Europa. Das Geld dafür ließ sich – ein Jammer – nicht auftreiben, Pohland operierte meist am Rand der großen Fördergeldströme. Verbittert klingt er nicht, die Arbeiten der Berliner Schule etwa verfolgt er genau und hat selbst noch immer Pläne. Dass die über die Jahrzehnte in alle Winde zerstreuten Oberhausener für seine Jubiläumsdoku nun doch wieder etwas Gruppenbewusstsein zeigten, hat ihn sichtlich beglückt.

Manche von ihnen bildeten Teams, ein großer Gruppenzusammenhang waren sie nie, zu divers ihre Begabungen, Herkünfte und Absichten, vieles verlief im Sand. Khittl starb früh. Einer der Talentiertesten, Raymond Ruehl, ertrank 1965 im Wörthsee, Edgar Reitz hat ihm in der „Zweiten Heimat“ als Ansgar ein Denkmal gesetzt. Die meisten sind Einzelkämpfer geblieben, im Zentrum oder am Rand der öffentlichen Aufmerksamkeit, unter einen Hut bekommt man sie nicht. Während Alexander Kluge zum Feuilletonhelden avancierte, geriet Bernhard Dörries etwa komplett aus dem Blick. Er hat heute einen Vimeo- und einen YouTube-Kanal, in denen er seine Sachen für die Öffentlichkeit sichtbar hält. Auf YouTube zeigt er aber seinen brandneuen Film „Auf der Erde zurückzulassende Botschaft“, 300 Abrufe bisher: ein existenzialistisches Machinima, ohne Budget in der virtuellen Second-Life-Welt gedreht. Ein Produktionsmittelavantgardist wie auch Kluge. Papas Kino ist tot, die Enkel wie Fassbinder, Herzog und Wenders zogen hinaus in die Welt. Des Aufbruchs der Söhne wird bis heute mit gemischten Gefühlen gedacht.