„Speer war nur gebildeter“

INTERVIEW STEFAN REINECKE

taz: Speer galt lange, verglichen mit den anderen NS-Größen, als außergewöhnlich. Warum?

Ulrich Herbert: Dieses Bild verdankt sich seinem Auftritt im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, der auf einem selbst entworfenen Lügengebäude fußte. Nun war das nicht ungewöhnlich – gelogen haben in Nürnberg alle Angeklagten. Speers Lügen und Auftreten waren aber origineller. Die Alliierten, auch die USA, hatten ja das Bild, dass es sich bei der Naziführung um eine Clique dumpfer, mordgieriger Verbrecher handelte. Streicher, der Herausgeber des Stürmer, entsprach diesem Bild. Auch Sauckel, der für die Heranschaffung der Zwangsarbeiter zuständig war. Oder Kaltenbrunner, der Nachfolger Heydrichs. Dieses Bild hat Speer durchbrochen. Er war kultiviert, höflich, intelligent, distinguiert. Und er bekannte sich schuldig, jedenfalls teilweise. Das hat die Richter überrascht – zumal die Alliierten 1945 ja zu ihrem Erstaunen feststellen mussten, dass es in Deutschland keinen einzigen Nazi gegeben hatte, und schon gar keinen Schuldigen. Und nun bekannte sich jemand schuldig, dem man diese Schuld vom Auftreten her gar nicht zutrauen mochte.

Die Richter sind auf Speers Inszenierung hereingefallen?

Ja. Die Alliierten haben aber daraus gelernt. Sie haben bald begriffen, dass der Typus des Akademiker-Nazis in führender Position ziemlich verbreitet war, vor allem in der SS und in den Besatzungsstäben. Zwei Jahre später, bei einem der Nachfolgeprozesse in Nürnberg trat sehr elegant der SD-Führer Otto Ohlendorf auf, ein Intellektueller von einigem Format, und gab zu, in Osteuropa 90.000 Juden ermordet zu haben. Auch er verwirrte die Richter. Er wurde zum Tode verurteilt.

Joachim Fest hat Speer als „Typus des spezialistisch verengten Menschen“ gedeutet. Ist das zutreffend?

Nein. Das war ein Wunschbild, das man sich in den 60er-Jahren von Speer gemacht hat. Hier geht es auch um das Bestreben, den Nationalsozialismus aus allgemeinen Tendenzen der Moderne, nicht nur in Deutschland, zu erklären, aus Arbeitsteilung, moderner Massengesellschaft und Technik.

Kann man Speer als typischen Vertreter der politischen Generation verstehen, die den Nationalsozialismus vorangetrieben hat?

Speer gehörte zu der jungen Garde, die durch den Nationalsozialismus sehr früh Karriere gemacht hat. Diese Karrieresprünge gab es nicht so sehr in der Partei, nicht in der klassischen Bürokratie, sondern vor allem in den neuen Sonderorganisationen, die „Führer-unmittelbar“ geschaffen wurden. Es gab ja 30-jährige SS-Führer, die für Gebiete von der Größe Hessens zuständig waren. Aber das gilt nicht nur für die SS, sondern auch den SD, zum Teil für die Universitäten und eben auch für Sonderstäbe wie den Rüstungsbereich.

Speer hat sich als Großbürger inszeniert, als Technokrat, der kein Nazi, aber mit Hitler befreundet war. Ein Solitär. Aber Sie beschreiben ihn als einen Typus der NS-Elite.

Ja. Er war ein typischer Vertreter der jungen akademischen Nazi-Elite. Nur waren die anderen in der Regel nicht so nah an Hitler dran. Aber das waren keine Technokraten, die jenseits der Ideologien jedem Herrn gedient hätten, auch Speer war das keineswegs. Sie waren dem Regime durch einige Grundüberzeugungen verbunden – die Überlegenheit des deutschen Volkes, die Notwendigkeit der Ausdehnung nach Osten und anderes. Diese Ideen gab es in der völkischen Rechten der 20er-Jahre, bei den Nazis und bei den Deutschnationalen.

Worin besteht Speers Hauptschuld?

Er hat als Rüstungsminister den Arbeitseinsatz der Zwangsarbeiter gelenkt. Er war für den Arbeitseinsatz der KZ-Häftlinge in den deutschen Rüstungsunternehmen zuständig. 450.000 KZ-Häftlinge haben am Ende in Speers Imperium gearbeitet. Es gibt kaum einen Funktionär im NS-System, der so vielfältig an Verbrechen beteiligt war.

Seit wann ist das bekannt?

Die wesentlichen Dinge sind seit Mitte der 80er geklärt – seine Verantwortung für die Zwangsarbeit, für den Bau der KZ, nicht zuletzt von Auschwitz, für dessen Bau sein Amt die Materialien bewilligt hat. Hinzu kommt seine Initiative für die Vertreibung der Berliner Juden aus ihren Wohnungen, die er in Zusammenarbeit mit der Gestapo vorantrieb. Über alle diese Fragen gab es schon längere Debatten – nur sind die offenbar zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten. Deshalb scheint es erneut gelungen zu sein, eine verrätseltes Bild von Speer zu bewahren.

Das Rätselhafte besteht darin, dass Speer höflich, gebildet auftrat – und aktiv an dem Massenmord teilnahm?

Irritierend ist offenbar, dass Speer sympathisch war. Aber warum ist das eigentlich irritierend? Es gab in der deutschen Elite der 40er-, 50er- und 60er-Jahre sympathische und unsympathische Leute – schon deshalb, weil es oft die gleichen Leute waren. Offenbar gab es aber in den 60ern ein starkes Interesse, das Bild der NS-Zeit umzuschreiben, also eine positive, mindestens gespaltene Figur zu finden. Das war Speer.

Wenn es keine entlastenden Fakten für Speer gibt, sondern im Gegenteil das Bild eines skrupellosen Nazifunktionärs klar hervortritt – warum hat sich das Bild von Speer als tragische Figur so hartnäckig gehalten?

Drei Punkte: Speer hat Nürnberg analysiert und verstanden, wie er aufzutreten hat: als Technokrat, als Künstler, als sympathischer Idealist, als begnadeter Architekt ohne Sinn für Politik. Das fiel ihm nicht schwer, weil manche dieser Rollen zu Aspekten seiner Persönlichkeit passte. Er war kein Fanatiker, sondern ein kühler, nationalsozialistischer Intellektueller, ein Architekt und ein blendender Organisator. In Nürnberg hat er seine Legende erfunden – und dabei ist er, wie viele andere auch, geblieben. Dann kommt in den 60ern Joachim Fest und sein Umfeld ins Spiel. Fest war sehr nah dran an dieser Szene aus alten Nazis und Generälen; und er verstand wenig von Rüstung, Zwangsarbeit und Besatzungspolitik. Und er suchte nach zumindest widersprüchlichen Wahrnehmungen der NS-Zeit. Fest hat Speer zu einer Art neuem Faust aufgebaut: jemand, der sich wider besseren Wissens mit dem Teufel einlässt – und dann untergeht. Das Dritte und Wichtigste ist: Das kollektive Gedächtnis kann mit einer NS-Spitze, die nur aus Verbrechern besteht, nichts anfangen. Es braucht ein Kontrastmittel. Gerade die Anonymität des Massenmordes steigert das Verlangen nach Personalisierungen – und nach widersprüchlichen Charakteren.

Verstehen Sie den Hype, den Breloers Speer-Film derzeit auslöst?

Ich finde den Film interessant, aber den Hype etwas befremdlich. Es ist in den letzten 25 Jahren wieder und wieder nachgewiesen und geschrieben worden, dass diese Legenden falsch waren und Speer nicht Faust war. Deshalb wundert es mich, mit welcher Verve diese Inszenierungen nun abermals niedergerissen werden. Ich habe den Eindruck, dass die Macht der Legende noch mal beschworen wird, damit man sie ordentlich brechen kann. Legenden zu killen ist ein aufregendes Geschäft, da kann man auch mal eine mehrfach beerdigte Legende erneut killen.

Nun kann man Breloer nicht vorwerfen, dass das, was er zeigt, in Fachkreisen bekannt ist.

Nein, natürlich nicht. Aber man kann auch nicht so tun, als sei das alles neu und als habe man das nun plötzlich entdeckt – „Um Gottes Willen, wir sind einem Schwindler aufgesessen, wie konnte das passieren?“, wie man es etwa in der FAZ lesen konnte. Diese Legendenzertrümmerung konnte man auch schon beim „Untergang“ beobachten. Man konnte dort sehen, dass Hitler nicht von morgen bis abends böse war, sondern zwischendurch Kaffee getrunken und Kinder gestreichelt hat. Na ja, das hatte man sich auch vorher schon mal gedacht. Hitler war ein Mensch! – diese Erkenntnis ist auch nichts anderes als die wiederkehrende Lust an der Zerstörung einer längst beerdigten Legende. Wir haben es also mit Kreisläufen zu tun. Offenbar ist die Lust, Legenden wieder und wieder zu zerstören, das Entscheidende. Das hat etwas Zwanghaftes.

Wenn das Zwanghafte das Symptom ist – wie heißt die Krankheit?

Es ist doch offenbar so, dass die 60 Jahre Distanz das Geschehen nicht kleiner sondern größer erscheinen lassen. Erst jetzt erkennen wir das ganze Ausmaß des damaligen Geschehens und fangen an, seine historische Bedeutung zu verstehen. Das wird sich fortsetzen – auch die langfristigen Auswirkungen und die historische Bedeutung des Dreißigjährigen Krieges haben die Menschen erst nach mehreren Generationen einordnen können. Wir sind die Generation, die unmittelbar nach diesem Ereignis lebt, und schon das verlangt nach Abstand, nach Zeit, auch nach Entlastung. Und das Erschrecken, die Fassungslosigkeit wird sich für jede Generation neu einstellen, und immer wieder wird man darüber irritiert sein, dass freundliche, gebildete Menschen eine solche Mordmaschine bedienten und ein Teil von ihr wurden. Und man wird erneut entdecken: Speer, das war kein verträumter Künstler, sondern einer der mächtigsten Männer in dieser Mordmaschine.