: Gauck zwischen den Polen
AUFARBEITUNG Der zukünftige Präsident Gauck erregt in Polen höfliches Desinteresse. Der ehemalige Stasiaufklärer Gauck war bei dem Nachbarn erst umstritten und dann Vorbild
TITEL EINER RADIODISKUSSION WÄHREND DER GAUCK-REDE IN LODZ
AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER
Mit dem Thema „Freiheit – Verheißung und permanente Herausforderung“ kann Joachim Gauck vielleicht in Deutschland punkten. In Polen hingegen rieben sich viele Publizisten die Augen, als der künftige Bundespräsident mit diesem Thema an der Universität Lodz angekündigt wurde: „Ein Deutscher will über Freiheit reden? In Polen?“ So erschienen zum Vortrag am Donnerstag denn auch nur Jurastudenten, einige Lokalpolitiker und ein Haufen Journalisten aus Deutschland. Denn „Freiheit und Freiheitskampf“ sind die ureigensten Themen Polens, nicht Deutschlands.
Für Polens Medien sind die deutsch-polnischen Beziehungen wichtig. Doch die Rede des künftigen Bundespräsidenten übertrug kein Sender. Im Vormittagsprogramm von TVP1 lief ein Kriegsfilm, in dem clevere polnische Soldaten tölpelhafte und brutale Nazideutsche besiegten. Im Radio diskutierten Ernährungswissenschaftler: „Wie schädlich ist Streusalz in polnischer Wurst?“
Dies mag damit zusammenhängen, dass die Polen von dem einstigen Chef der deutschen Stasi-Unterlagen-Behörde etwas anderes erwarten. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989/90 standen alle ehemaligen Ostblockstaaten vor der Frage, wie sie mit ihren Stasiakten umgehen sollten. Während Polens tonangebende Bürgerrechtler für den „dicken Schlussstrich“ plädierten und sich dafür aussprachen, die Akten samt und sonders wegzuschließen, ging Deutschland den umgekehrten Weg: Unter Joachim Gauck konnten die Stasiopfer ihre Akten einsehen, oft grausame und bislang unverständliche Schicksalsschläge in ihrem Leben nachvollziehen und die Klarnamen ihrer Spitzel und Verräter erfahren. In Polen befürchteten die Bürgerrechtler von einem solchen Vorgehen kleinliche Rachefeldzüge und eine nicht enden wollende Schlammschlacht, die die Gesellschaft zerreißen könnte.
Auch für Tadeusz Mazowiecki, den ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Polens nach dem Zweiten Weltkrieg, war die Vergangenheitsaufarbeitung zunächst zweitrangig. Das Land sollte innerhalb kürzester Zeit in eine Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft verwandelt werden. Darauf mussten alle Kräfte konzentriert werden. Zudem fühlten sich die Anhänger der Gewerkschafts- und Freiheitsbewegung Solidarnosc an ein Abkommen gebunden, in dem die ehemalige kommunistische Einheitspartei Polnische Vereinigte Arbeiterpartei einen Großteil ihrer Macht freiwillig abgegeben hatte. Allen war klar, dass es auch zu Blutvergießen hätte kommen können – wie so oft zuvor in Polen.
Die Diskussionen, die sich Gauck und die früheren Bürgerrechtler Polens in den 1990er Jahren lieferten, waren heftig. Am Ende musste sich der ehemalige Pfarrer sogar sagen lassen, dass seine Art der Vergangenheitsaufarbeitung „typisch deutsch“ sei und die Großherzigkeit des Verzeihens nicht kenne.
Doch die polnische Generalamnestie bestand den Praxistest nicht. Dies begann schon bei Wahlen. Haben Polen nicht ein Recht darauf, zu erfahren, ob ein Kandidat früher Mitarbeiter der Staatssicherheit war? Plötzlich tauchten Aktenblätter auf, Skandale und Affären nahmen kein Ende. In der Gesellschaft begann es zu gären. Jeder verdächtige jeden. Am Ende musste mit dem Institut für das Nationale Gedenken (IPN) auch in Polen eine Art Gauck-Behörde geschaffen werden. Zunächst noch widerwillig gaben viele seiner ehemaligen Gegner in Polen nun Joachim Gauck recht. Heute gilt die deutsche Stasibehörde auch in Polen als Vorbild für eine zivilisierte Vergangenheitsaufarbeitung.
In Lodz gab nun andererseits Gauck zu, dass nicht nur die DDR-Bürgerrechtler einst von den Solidarnosc-Kämpfern im Nachbarland gelernt hätten, sondern der polnische Mut zum Risiko den Deutschen bis heute Respekt abfordere. Die Polen hätten sich ganz allein Demokratie und Marktwirtschaft erkämpft. Kaum eine andere Volkswirtschaft in der EU stehe heute so gut da. Freiheit verpflichte allerdings auch. So müssten sich heute Polen, Deutschland und die anderen EU-Mitglieder angesichts der Griechenlandkrise erneut über den gemeinsamen Wertekanon verständigen.
Für die meisten Medien Polens war das nicht weiter erwähnenswert. Allein die linksliberale Gazeta Wyborcza dankte in einem Artikelchen: „Gauck lobt die Polen“.