8.Mai 1945

Die Jahrhundertwende

Die Feiern in Moskau zum 60. Jahrestag der Kapitulation Nazideutschlands eröffnen für alle beteiligten Nationen eine Chance. Denn diese Feiern können dem „geteilten Gedenken“ ein Ende setzen, das jahrzehntelang die Erinnerung an das Kriegsende beherrschte. Präsident Putin will aus dem 9. Mai 2005 ein „Ereignis der europäischen Versöhnung“ machen. Aber dieses Unterfangen setzt voraus, dass die sehr unterschiedlichen Erfahrungen der Nationen mit dem Kriegsende und dessen Folgen thematisiert werden können.

Die demokratischen Revolutionen und Umgestaltungen von 1989 bis 1991 haben das Tor zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerung aufgestoßen – aber gleichzeitig die Hindernisse sichtbar gemacht. Staaten, die nach 1990 gerade erst ihre Unabhängigkeit von der einstigen Sowjetunion erlangt hatten, sehen den Mai 1945 als Datum ihrer Unfreiheit. Man denke hier nur an Polen, das trotz großen Opfermuts im Kampf gegen den Nazismus für Jahrzehnte im sowjetischen Hegemonialbereich landete. Oder an die baltischen Staaten, die im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts annektiert und nach 1945 erneut der Sowjetunion zugeschlagen wurden.

Umso bedeutender war der Entschluss des polnischen Staatspräsidenten Kwaśniewski, der die Einladung zum 9. Mai nach Moskau annahm und erklärte: „Wir feiern in Moskau den Sieg über den Faschismus, und man muss anerkennen, dass die Russen einen großen Anteil an diesem Sieg haben.“ Das Stichwort heißt „Anerkennung“, auch der sowjetischen Opfer. Damit ist keine Relativierung der eigenen historischen Sicht verbunden, wohl aber Empathie und das Angebot, über die Geschichte, wie Kwaśniewski sagte, „miteinander zu reden“. Zu einem solchen Vorgehen haben sich zwei der drei baltischen Staaten nicht entschließen können. Noch nicht, obwohl die politische Lage stabilisiert ist und eine neue Generation die Bühne betreten hat.

Statt das heutige Verhältnis Russlands und Deutschlands und seine Freundschaft zu Putin in den Mittelpunkt zu rücken, täte Bundeskanzler Schröder gut daran von einer gemeinsamen europäischen Perspektive auszugehen – auch in der Erinnerungsarbeit. CHRISTIAN SEMLER