: Lüge im Visa-Ausschuss
Nicht gegendarstellungsfähig (II): Jony Eisenbergs juristische Betrachtungen. Heute: Wenn Richter lügen
Hier stellt der Berliner Verteidiger und Presseanwalt Jony Eisenberg juristische Betrachtungen an.
Einer der Gründe für die Einleitung des Visa-Untersuchungsausschusses hat sich jetzt als schriftliche Lüge erwiesen: Kölner Staatsanwälte und Richter haben dem Auswärtigen Amt vorgeworfen, in einem Schleuserstrafverfahren die Sachaufklärung behindert zu haben. Das Amt hatte Bedenken gegen eine Zeugeneinvernahme der früheren Leiterin der Visa-Abteilung der Kiewer Botschaft angemeldet. Grund: Morddrohungen wegen ihrer Tätigkeit. Das Gericht hat frech in seine Urteilsbegründung geschrieben, die Morddrohungen seien eine amtliche Finte gewesen, um eine für das AA unerfreuliche Aussage zu verhindern. Einer der Richter will laut Urteilsbegründung mit der Zeugin telefoniert und das dabei erfahren haben.
Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung hat der Ausschuss jetzt herausgefunden, dass im Urteil objektiv die Unwahrheit stand: Der Richter hatte entgegen seinen Angaben nicht mit der Zeugin gesprochen, sondern mit einer Nachfolgerin. Die kannte den Sachverhalt nicht.
Es könnte sich um ein Komplott politisch eifernder Strafjuristen handeln, die dem Bundesaußenminister an die Wäsche wollen; es könnte sich um Saumseligkeit und Schlamperei handeln. Der Fall wirft jedenfalls ein Schlaglicht auf das freie richterliche Ermessen und deren „Unabhängigkeit“. Vor richterlichen Unwahrhaftigkeiten in Strafurteilen ist – was kaum jemand weiß – in Deutschland niemand geschützt. Wenn ein Zeuge sagt, dass ein Angeklagter nicht am Tatort war, und das Gericht das Urteil damit begründet, dass der Zeuge ihn am Tatort gesehen habe, dann ist das Urteil mit dem Nachweis der schriftlichen Lüge nicht anfechtbar. Dieser Grundsatz der Hoheit des Tatrichters über den Sachverhalt wird eifersüchtig von den Revisionsgerichten und vom Gesetzgeber verteidigt. Jahrzehntelange trickreiche Versuche engagierter Verteidiger, die Richter auf den „wahren“ Inhalt von Beweiserhebungen festzulegen, sind ebenso trickreich von den Gerichten vereitelt worden. Forderungen aus der Anwaltschaft, den tatsächlichen Verlauf einer Beweisaufnahme zu dokumentieren, etwa durch Tonbandaufzeichnungen wie in den USA, sind vom deutschen Gesetzgeber unter dem Druck der Richterschaft stets zurückgewiesen worden.
Das „Recht“ zur falschen Sachverhaltsfeststellung, wenn sie unter Beachtung der Prozessregeln stattfindet, ist ureigenstes Richterprivileg. Bis zur Überschreitung der Schwelle zur Rechtsbeugung kann ein unschuldig Verurteilter nicht einmal eine Wiederaufnahme erreichen. Auch dann nicht, wenn er nachweist, dass ein Richter das Ergebnis der Beweisaufnahme in ihr Gegenteil verkehrt hat. Und diese Schwelle übertritt ein bundesdeutscher Richter praktisch nie, weil ihm kein Vorsatz nachgewiesen werden kann.JONY EISENBERG