Eine Art von Buschkrieg

ERSTER WELTKRIEG Harry Graf Kesslers fesselndes Tagebuch 1914–1916 belegt, wie virulent spezifische Kolonialpläne für die deutschen Kämpfe im Osten Europas waren

Auf seiner Fahrt nach Beeskow notiert Kessler: „Die ganze Bevölkerung von Berlin bis hier macht den Eindruck, als ob sie vollkommen den Kopf verloren hätte, die wilde Mär von den ‚russischen‘ Autos, die mit achtzig Millionen französischen Goldes nach Russland unterwegs sind und Bomben zur Zerstörung von Telegrafenleitungen und Bahnübergängen mitführen, hat ihre Phantasie und ihre Angst auf das Äußerste gereizt“

VON JAN SÜSELBECK

Zu Beginn des „Kriegstagebuchs eines Stoßtruppführers“, das 1920 unter dem Titel „In Stahlgewittern“ erschien, schreibt Ernst Jünger: „Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg musste es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen.“

Von dem intellektuellen Kosmopoliten und kritischen Beobachter Harry Graf Kessler, dessen ab 1880 konsequent geführtes Tagebuch bei Klett-Cotta ediert wird, hätte man Dummheiten wie diese weniger erwartet. Präsentiert ihn doch der 2009 erschienene Band, der Kesslers Aufzeichnungen von 1923 bis 1926 versammelt, als noblen „roten Grafen“. So nannte man den Dandy während der Weimarer Republik. Rastlos ist Kessler hier in der ganzen Welt unterwegs, mal auf dem Atlantik zwischen Madeira und den Kanaren umherschippernd, mal als möglicher Reichstagskandidat in Westfalen im Wahlkampf – und dann auch schon wieder als tapferer Botschafter eines neuen, demokratischen Deutschlands auf Vortragstour in den USA.

Doch der fünfte Band der Edition, der die Notizen Kesslers von 1914 bis 1916 zugänglich macht, stellt uns einen ganz anderen Diaristen vor. Am 23. August 1914, während des Vormarschs deutscher Truppen durch Belgien, bei dem es zu Massakern an der Zivilbevölkerung kam, sinniert der Rittmeister der Reserve, das Gefecht komme ihm „aufregend und aufpeitschend wie Champagner“ vor. „Die Beklemmung ist viel geringer als auf der Rutschbahn.“

Wie so viele Intellektuelle und Schriftsteller seiner Zeit lässt Kessler zu Beginn des Ersten Weltkriegs keinerlei kritische Distanz zu der deutschen Propaganda erkennen und scheint die Erschießungen belgischer Zivilisten als notwendige Vergeltung für halluzinierte „Franc-tireur“-Attacken hinzunehmen. Dennoch – oder gerade deshalb – ist dieser Band der Tagebuch-Edition eine besonders aufschlussreiche Quelle, deren Lektüre viel Neues über das „Augusterlebnis“ von 1914 und seine furchtbaren Folgen verrät.

Bereits der erste Eintrag vom 5. August 1914 fesselt den Leser mit bürgerkriegsähnlichen Szenarien. Fassungslos schildert Kessler, wie ungebetene Zivilisten mit der Flinte in der Hand auf den Straßen des Berliner Umlands auf „Spionenjagd“ gehen. Es gibt Verletzte und Tote: Die wild gewordenen Bürger stoppen selbst deutsche Soldaten, die auf dem Weg zu ihrem Feldzugsquartier sind, weil sie nicht glauben wollen, dass deren Papiere echt seien. So auch Kessler, der nach mehreren solcher Vorfälle auf seiner Fahrt nach Beeskow entnervt notiert: „Die ganze Bevölkerung von Berlin bis hier macht den Eindruck, als ob sie vollkommen den Kopf verloren hätte, die wilde Mär von den ‚russischen‘ Autos, die mit achtzig Millionen französischen Goldes nach Russland unterwegs sind und Bomben zur Zerstörung von Telegrafenleitungen und Bahnübergängen mitführen, hat ihre Fantasie und ihre Angst auf das Äußerste gereizt.“

Doch auch Kessler selbst gerät zusehends in den Bann dieses akuten Kriegswahnsinns. Vor allem belegen dies seine Berichte von der Ostfront, an der er schließlich bis 1916 im Einsatz ist. Nicht nur für die Historiografie, die diesen „vergessenen“ Kriegsschauplatz seit geraumer Zeit neu entdeckt und die dort stattgefundenen Gräuel erstmals aufzuarbeiten beginnt, sind Kesslers Beobachtungen und Analysen von geradezu sensationeller mentalitätsgeschichtlicher Aussagekraft.

Es wird immer deutlicher, dass auch die Kämpfe gegen Russland und auf dem Balkan im Ersten Weltkrieg bereits Charakteristika des späteren nationalsozialistischen Vernichtungskriegs annahmen, bis hin zu exzessiven Massakern an der Zivilbevölkerung. Zwar ist von Letzteren bei Kessler nichts zu lesen, doch der rassistische und koloniale Blick auf die Polen, Juden und Ruthenen, der in den Feldzugsbeschreibungen des Grafen manifest wird, spricht Bände. In der Karpatenregion fallen Kessler die blonden Ruthenen wegen ihres edlen Wuchses wiederholt positiv auf, und dabei wundert er sich, dass sich ihre „Naturalwirtschaft trotz der Juden, die in jedem Dorfe zahlreich wie Läuse sitzen, gehalten hat“.

Auf seinem Weg bis tief nach Russland hinein in Gefechtsregionen, die im Folgekrieg zu zentralen Schauplätzen der Schoah werden sollten, beginnt Kessler, hochfahrende geopolitische Überlegungen anzustellen. Selten wurde der spezifische deutsche Kolonialismus, der traditionell eben nicht nur in Richtung Afrika, sondern vor allem nach Osten strebte, so schlagend belegt wie mit den Weltmachtideen, die Kessler hier beseelen. Polen solle zu einer deutschen Kolonie nach dem Vorbild der britischen Enklaven in Australien und Kanada werden, fordert der Stratege, und wähnt seine Truppenteile dafür in den Sümpfen Wolhyniens bereits in einer „Art von Buschkrieg“. Da die Juden, die er für „militärisch minderwertig“ hält, in jenen Regionen die Gesellschaft dominierten, strebe er „als deutschen Schutzstaat“ einen „Judenstaat“ an, in den sich dann die Berliner Kolonialherren wie in ein „Schlaraffenland zurückziehen“ könnten, um „fürstliche und gräfliche Dynastien“ zu gründen, formuliert Kessler am 25. August 1915 nahe Brest-Litowsk.

Dass diese Gegenden im Zweiten Weltkrieg aufgrund vergleichbarer Wunschträume zu einem veritablen Planeten der Vernichtung mutieren sollten, ahnte Kessler noch nicht. Sein Tagebuch demonstriert jedoch auf bestürzende Weise, wie verführerisch ein Eroberungskrieg selbst auf jene Intellektuellen zu wirken vermag, die es doch wirklich besser wissen müssten. Immerhin: Kessler lernte nach 1918 dazu. Doch die antisemitischen Großmachtfantasien, von denen er sich später distanzierte, sind auch heute noch lange nicht aus der Welt. Auch deshalb ist sein Tagebuch 1914–1916 für uns ein so mahnendes und wichtiges Dokument.

■ Harry Graf Kessler: „Das Tagebuch 1880–1937. Fünfter Band 1914–1916“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2008, 820 Seiten, 63 Euro ■ Harry Graf Kessler: Das Tagebuch 1880–1937. Achter Band: 1923–1926. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009, 1.000 Seiten, 63 Euro