: Ein Skandal, der gefällt
Ein Pfahl im Fleische sollte entstehen. Ein Stolperstein in der bundesdeutschen Alltagsnormalität. Nun ist der Steinwald überraschend hübsch geworden
VON STEFAN REINECKE
Vor fünf Jahren erschien im Philo Verlag ein ungewöhnliches Buch. Es war ungefähr so schwer wie ein Sprudelkasten, hatte 1.300 Seiten und umfasste, längst nicht alle, Artikel, Exposés, Gutachten, Diskussionsbeiträge und Texte, die zum Holocaust-Mahnmal geschrieben worden waren. das denkmal prangt in roten Lettern auf dem Titel – das Ganze war ein wortwörtlich schwergewichtiges Indiz, dass die Debatte um das Mahnmal die Funktion des Mahnmals selbst zu übernehmen schien. Das Argument, dass weniger das Mahnmal als der Streit um es das Zentrale sei, war in den 90er-Jahren oft zu hören. Es passte in die Zeit. Antidenkmale, etwa von Jochen Gerz und Horst Hoheisel, waren angesagt: Skulpturen, die im Boden verschwanden oder unsichtbar waren. Die Antidenkmale funktionierten selbst wie Diskurse – und spiegelbildlich schien die Debatte um das Berliner Mahnmal selbst Teil des Projekts zu sein.
Das ist vorbei. Das Holocaust-Mahnmal, unweit von Reichstag und Brandenburger Tor mitten in Berlin gelegen, wird heute eröffnet. Wer dieses Rasterfeld von Betonstelen von außen anschaut und hineingeht, macht eine überraschende Entdeckung. Peter Eisenmans Mahnmal ist interessant, fast gefällig. Es hat (zumindest für Menschen ohne Platzangst) nichts Schroffes, Abweisendes, eher etwas Verspieltes, Offenes. Eisenman hat einen Stelenwald gebaut, der sanft wirkt, wiegend. Faszination und Schrecken der Größe (19.000 Quadratmeter, 2.711 Stelen) verblassen. Die Größe ist in Form aufgelöst.
Dieser graue Wald hat keinen Eingang, auch keine Botschaft, schon gar keine eindeutige. Er lädt zum Verweilen ein, zum Schauen, zum Ausprobieren von Perspektiven (und Kinder zum Versteckspiel?). Er funktioniert wie ein Großstadtpark, ein Refugium. Genauer: Er bietet die Möglichkeit. Wer sich verloren fühlt, kann dies hier tun. Aufgezwungen wird es ihm nicht. Auch wo sich die Wege absenken und die Stelen die Kopfhöhe um einen Meter umragen, führt jede Flucht, in die man blickt, zu einem Ausgang. Etwas hochgestochener formuliert: Dieses Rasterfeld ist ein offener Erfahrungsraum für Großstadtmenschen, ein Feld zwischen Entfremdung und Reflexion. Es ist ein Stück urbaner Architektur, fern dem Versuch, mit Überwältigungsästhetik das Ereignis, an das es erinnern soll, nachzuahmen. Fern aber auch davon, wie manche Anhänger dieses Projekts argumentierten, verstörende, Schwindel erregende Sinneseindrücke zu vermitteln und mit milder, gewissermaßen ästhetisierter Pädagogik, die Verlorenheit der Opfer anklingen zu lassen.
Eisenmans architektonische Skulptur kann man als Pendant von Daniel Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin-Kreuzberg verstehen, dessen eckige Räume und gezackte architektonische Formensprache auch weniger beengend als anregend wirken. Zum Grundriss des Libeskind-Baus haben manche einen zerborstenen Davidstern assoziiert – Eisenmans Skulptur ist noch offener. Sie verweigert jeden Hinweis auf ihren Anlass. Viele werden in diesem grauen Stelenwald einen Friedhof sehen – aber diese Assoziation entspringt eher dem Kopf des Betrachters, der weiß, worum es geht, als dem Stelenpark selbst. Eisenman hat auf die Frage, was seine Skulptur bedeutet, mal kokett geantwortet: „Was sie wollen.“ Mehr nicht.
Mehr nicht? Doch natürlich. Die Aussage dieses Mahnmals ist, dass es keine Aussage macht – und dies in eleganter, geradezu angenehmer Form. Das irritiert – zumal wenn man sich an den Diskurs, die Kritik, die Prognosen, Polemiken und Verteidigungsreden der letzten zehn Jahre erinnert. Martin Walser sah einen „fußballfeldgroßen Albtraum“, Eberhard Diepgen Berlin zur „Hauptstadt der Schande“ werden. Die Befürworter wollten ein Skandalon schaffen, einen Pfahl im Fleische, einen Stolperstein in der bundesdeutschen Alltagsnormalität. Dass sich dieser Steinwald so hübsch in die Umgebung einfügen würde – war das von den Erinnerungsexperten so vorhergesehen? Nur ein Laie in Fragen der Gedenkästhetik, Kanzler Schröder, hatte rasch begriffen, um was es geht: „ein Mahnmal, zu dem man gerne geht“. Sein Wunsch scheint in Erfüllung zu gehen. (Wobei das Copyright auf diese Idee György Konrád hat, der einen „jüdischen Garten für alle“ vorschlug.)
Ist diese Verbindung von Angenehmem, Anregendem und Holocaust-Gedenken obszön? Vielleicht. Diese Frage wird alltäglich entschieden werden – durch den Gebrauch, den Schulklassen, Anwohner, Touristen, Architekturstudenten, Kulturbeflissene und alle anderen von diesem Terrain machen werden. Gewiss ist, dass dieses Ensemble die Erklärungen braucht, die im „Ort der Information“ angeboten werden. Dieser Ort nimmt übrigens der Architektur keineswegs die Wirkung, wie viele (auch der Autor) 1999 vermuteten. Es ist mehr als eine Ergänzung, es ist notwendig.
Das Holocaust-Mahnmal ist das gebaute Zeichen, dass diese Republik die Erinnerung an die Verbrechen der Deutschen in ihr Selbstbild integriert hat. Noch keine Nation hat ihre Untaten so augenfällig symbolisiert. Vor allem Konservative sahen in diesem Unterfangen eine Art Masochismus, der die längst überfällig Normalisierung Deutschlands behindert.
Aber das sind die Fronten von gestern. Normalisierung und Holocaust-Erinnerung sind kein Gegensatzpaar mehr – im Gegenteil. Dieser Prozess hat in den Fünfzigern, mit Adenauers „Wiedergutmachung“ an Israel, begonnen. Unter Rot-Grün ist er zu einem triumphalen Abschluss gekommen – einem stillen Triumph, versteht sich. Gerhard Schröder, der an der Seite von Putin, Chirac und Bush den 9. Mai in Moskau feiert und zeigt, dass die Normalisierung Deutschlands abgeschlossen ist – Gerhard Schröder, der das Holocaust-Mahnmal eröffnet – man muss diese beide Bilder nebeneinander halten, um die Effekte bundesdeutscher Geschichtsinszenierungen zu begreifen. Claus Leggewie und Erik Meyer schreiben in ihrem lesenswerten Buch „Ein Ort, an den man gerne geht“, dass es zwar logisch unmöglich ist, „den deutschen Sonderweg symbolisch zu beteuern und faktisch für beendet zu erklären“, aber genau so funktioniert. Dieser scheinbar paradoxe Prozess ist unter Rot-Grün zum Abschluss gekommen.
Die Dialektik von Schuldrepräsentation und Normalisierung ist nicht das Resultat eines Masterplans, der auf die trickreiche Entsorgung deutscher Geschichte durch demonstrative Gesten abzielt. Die Bundesrepublik hat, langsam und viel zu spät, Auschwitz zu ihrem negativen Gründungsereignis gemacht. Das ist ein Zeichen ihrer Zivilität – und das Eintrittsbillett in die Normalisierung. Nur weil es nicht beabsichtigt war, konnte es so kommen. Eisenmans Holocaust-Mahnmal passt in diesen Kontext. Die lebendige Zeugenschaft an die NS-Zeit verschwindet. Aus unmittelbar erlebter Erinnerung wird Mittelbares, Mediatisiertes. Geschichte wird zum Zeichen, zum Bild. Mit dem Holocaust-Mahnmal werden die Tatorte, die Konzentrationslager, in den Hintergrund des Interesses rücken. Der inszenierte Stadtraum wird für viele an die Stelle der konkreten Orte treten. Geschichte wird ästhetisiert.
Was sagt also uns dieses Mahnmal? Es ist ein gigantisches Zeichen, dass Auschwitz unauflöslich mit dem Selbstbild dieser Republik verbunden ist – und ein Großstadtpark. Peter Eisenman hat einen Skandal gebaut, der gefällt. Damit spiegelt dieses Mahnmal die paradoxen Bewegungen der bundesdeutschen Geschichtspolitik präzise wider.