Der kindliche Glamour des Protests

SUBKULTUR Seit Fukushima ist die japanische Alternativszene im Auftrieb. Ein Streifzug durch Tokio

„Alles, was den sozialen Frieden stört, wird ausgeschlossen“

KEISUKE NARITA

AUS TOKIO SUSANNE MESSMER

Ein ganz gewöhnlicher Freitagnachmittag in Shinjuku. In diesem Stadtteil Tokios verlief sich Bill Murray in „Lost In Translation“. Nach dem Muster der Straßenschluchten ließ Ridley Scott die Kulissen seines Films „Blade Runner“ zimmern. Alles ist beim Alten: Der schwere Beton der klotzigen Hochhäuser und die wuchtige Neonreklame klemmen die Leute auf dem Nachhauseweg ein wie Schraubstöcke. Der verwirrte Besucher, der doch alles wieder erkennt in dieser Megapolis, die so oft beschrieben und gefilmt worden ist, muss sich am zweitgrößten Bahnhof der Welt von hektischen, doch wohlgeordneten Menschenmassen schnellen Schrittes zum richtigen Eingang der richtigen U-Bahn schwemmen lassen. In die Bahn pressen. Umsteigen. Den richtigen Ausgang finden, die richtige Richtung, Kreuzung, Gasse. Als er endlich gefunden ist, der kleine, überheizte und vollgestellte Laden des Keisuke Narita, da fühlt sich alles nach Zuflucht an.

Irregular Rhythm Asylum heißt Keisuke Naritas Infoladen voller Zines und Bücher, Pamphlete und Poster, CDs, Mangas und einem abgewetzten Kunstledersofa. Er ist ein großer, lässiger Schlaks um die 30. Er trägt schwarz, den Mittelscheitel so gerade wie den Rücken, spricht langsam und gelassen. Dieser Mann ist der Einzige, der schon Wochen vor diesem Gespräch auf jede E-Mail reagierte, und zwar prompt. Denn dieser Mann hat Zeit. Er hat für jeden Zeit, der etwas von ihm will. Alle Fragen beantwortet er, und all seine Kontaktadressen gibt er her. Man könnte sagen: Freizügigkeit ist seine Mission.

Keisuke Narita erzählt. Er hat seinen Laden seit sieben Jahren. Geld kann er hier keins verdienen, denn die wenigsten, die zu ihm kommen, kaufen etwas. Die meisten, wollen einfach nur reden. Ein bisschen zusammensitzen und rauchen. Darum arbeitet Narita nebenher als Grafikdesigner.

Warum Narita anders als die meisten anderen wurde, daran kann er sich nicht erinnern. Vielleicht war es die Sex-Pistols-Platte eines Freundes, als er noch zur Schule ging. Vielleicht war es irgendein Punkkonzert. Jedenfalls hatte er keine Lust auf das Leben, das seine Lehrer und Eltern – einfache Angestellte, wie er sagt – für ihn vorgesehen hatten. Der Raum, der den meisten seiner Freunde zwischen Bett, Büro und Kneipe zugestanden wird, war ihm zu eng. Er gründete sein eigenes Magazin, schrieb Artikel über Anarchismus und die Philosophie des Do-it-yourself. Dann fand er den Ort für diesen Laden.

Arbeit als Religion

Es sind eine Handvoll Dreißigjähriger wie Keisuke Narita, in denen der Protest gegen ein Land, das schon lang zum Stillstand gekommen ist, Gestalt und fast kindlich charmanten Glamour annimmt. Den Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit kennen sie nur noch aus den Erzählungen der Eltern. Groß geworden sind sie in den Jahrzehnten nach der Wirtschaftskrise 1989, der „verlorenen Dekade“ der neunziger und der „Dekade des Prekären“ der nuller Jahre. Man nennt sie hier Freeter oder Neeter, also Freischaffende oder Leute, die „not in education, employement“ oder „training“ sind – und hat sie schwach und faul zu finden. Denn trotz zunehmender Arbeitslosigkeit, Teilzeit und Billiglohn hat Arbeit in Japan noch immer Religionsstatus. Das Verhältnis der Angestellten zum Chef wird noch immer mit dem des Samurai zum Lehnsherren verglichen. Und noch immer sterben jedes Jahr mehr Leute an Karoshi, an Tod durch Überarbeitung. So entgeht vielen, dass sich die neue Generation der japanmüden Japaner schon vor der Katastrophe vom 11. März 2011 organisiert haben. Seit Jahren nennen sie sich selbst „working poor“ oder Lumpenintelligenz. Dass sie dabei nicht nur dem Anpassungsdruck ausweichen, sondern auf wachsende soziale Probleme wie Überalterung, die zunehmende Zahl von Selbstmördern oder radikalen Schulverweigerern hinwiesen: Das machte sie auch nicht gerade beliebter.

„Japan ist ein harmoniesüchtiges Land“, sagt Keisuke Narita. Es fällt ihm schwer, unhandliche Worte wie Konfuzianismus und Untertanengeist in den Mund zu nehmen. „Alles, was den sozialen Frieden stört, wird ausgeschlossen“, bringt er es gern einfacher auf den Punkt.

Umso erstaunlicher, dass sich die Lage nach dem 11. März änderte. Wie die meisten in Tokio war auch Narita traumatisiert von den Bildern im Fernsehen, vom Erdbeben, vom Tsunami, vom Super-GAU. Doch anders als viele wollte er gleich etwas tun. Er gehörte zu den Organisatoren der größten Demonstration in Japan seit den siebziger Jahren am 10. April 2011.

Es war die erste einer Reihe von Demos gegen Atomkraft, die bis heute fortgesetzt wird. Die nächste ist schon in zwei Tagen, lächelt Narita stolz. Seit den Demos hat er das Gefühl, mit anderen Augen gesehen zu werden. „Hier geht es um Atomkraft“, sagt er. „Hier geht es aber auch um viel mehr.“ Vielleicht wird es in Japan demnächst eine Art kulturelle Revolution geben. Oder zumindest eine große Lockerung. Möglicherweise sind die Auffassungen der Neinsager, die es hier schon länger gibt, über das große, gemeinsame Thema nun endlich anschlussfähig, ihre Ideen von mehr Selbstbestimmung und einem vernünftigen Leben, in dem es nicht nur um Effektivität und Fortschritt geht, plausibler geworden.

Aber da kommt eine Freundin in den Laden Keisuke Naritas, eine zarte Frau Anfang zwanzig, die sich als Musikerin vorstellt. Keisuke Narita will seine Zeit jetzt ihr schenken. Sie ist gekommen, um sich mit dem Nähkreis zu treffen. „Kei muss auch mitmachen, denn wir sind nur vier oder fünf Leute“, lacht sie und kramt zwei Flaschen Bier für alle aus ihrem Jutebeutel. „Aber das ist doch ein Anfang, oder?“ Yoko hat sich über Facebook mit Akteurinnen der Strick-Bewegung, des Urban Knitting, in Amerika und Deutschland angefreundet. Punk ist heute, meint sie, etwas selber zu machen.

Unbehauste Gesellschaft

Am anderen Morgen, der Himmel ist fast giftig blau, zieht eine zierliche Frau voller Entschlossenheit einen wuchtigen Koffer durch die zugige Hotellobby. Sie kann nur auf zwei Tassen Kaffee bleiben, brutal starken Filterkaffee ohne Milch und Zucker, wie man ihn hier oft trinkt. Der Blick durch die Glasfront geht auf den eingerüsteten Hauptbahnhof, der gerade, so heißt es, „erdbebensicher“ gemacht wird.

Miri Yus schönes, melancholisches Gesicht erinnert an einen weisen Waldkauz. Sie ist auf dem Sprung. Sie kommt aus Kamakura, wo sie wohnt, einer kleineren Stadt eine Zugstunde südlich von Tokio. Und sie will weiter nach Minamisoma, eine Stadt zwei Stunden nördlich, keine 25 Kilometer entfernt vom Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi, direkt am Rand der Sperrzone. Hier zerstörte der Tsunami 1.800 Häuser, mehr als 1.000 Menschen starben, 500 sind vermisst. Fast die Hälfte der Einwohner wurden evakuiert oder sind weggezogen. Miri Yu bietet in dieser Stadt einen Workshop an. Das Thema ist Erinnerungskultur. Die Leute sollen einfach erzählen, jedes noch so kleine, verlorene Detail ist wichtig, sagt sie.

Fukushima habe ihr Leben verändert, erzählt Miri Yu. Bislang waren ihre Werke vom eigenen Leben inspiriert – einem Kokon, aus dem sie nie herausgekommen ist. Sie gehört der koreanischen Minderheit in Japan an, die nach wie vor diskriminiert wird. Yu spricht in diesem Zusammenhang von nie reflektiertem Rassismus und von interner Kolonisation. Ihr Vater war Angestellter einer Spielhalle, ihre Mutter arbeitete als Hostess in einem Nachtclub. Als Teenager versuchte sie mehrfach, sich das Leben zu nehmen, und flog von der Schule.

Ihr einziger ins Deutsche übertragene Roman „Gold Rush“ handelt von einem Jungen, der wie sie als Kind koreanischer Eltern im Rotlichtmilieu Yokohamas aufwächst und bald die Kontrolle über seine Gewaltfantasien verliert. Sie schildert eine unbehauste Gesellschaft, die ihre Kinder im Stich lässt, die wiederum nie in der Lage sein werden, auch nur einen Krümel Empathie aufzubringen.

Miri Yu ist eine Schmerzensfrau, bei der es stets um die eigenen Wunden, um die innere Obdachlosigkeit ging. Als sie 1996 den begehrten Akutagawa-Preis bekam, wurde sie von nationalistischen Drohmails überhäuft. Als sie im Frühling letzten Jahres zum ersten Mal über die Informationspolitik der japanischen Regierung schimpfte, wurde ihr per Twitter nahegelegt, sie möge bitte nach Hause gehen, und zwar mitsamt ihrem Kind. Aber wo ist zu Hause? In Fukushima, wo die Menschen so heimatlos wurden, wie sie es ist, wird Miri Yu nun zum ersten Mal in ihrem Leben nicht angefeindet. Es wird ihr erlaubt zu geben. Sie erzählt von Menschen, die ihre Häuser, ihre Gräber und ihr Vieh im kontaminierten Gebiet lassen mussten. Sie erzählt von Frauen, denen es ergehen wird wie den Frauen in Hiroshima und Nagasaki vor fast siebzig Jahren. Sie werden keinen Heiratspartner finden. Bald wird das erste Buch Yus erscheinen, dass sich nicht um ihre eigenen Verletzungen dreht. Als Autorin ist sie jetzt unter die ethnografischen Feldforscher gegangen, sagt sie. Vor allem aber ist sie durch Fukushima in die Welt gekommen, hat sich geöffnet und wird zum ersten Mal nicht mehr nur als Störenfried wahrgenommen.

Ein Fan von Astro Boy

Zwei Stunden später, zwölf Stationen weiter mit dieser schrulligen U-Bahn voller aufgeräumter Mienen und Bügelfalten, die nicht essen, nicht trinken und nicht einmal in ihr topmodernes Smartphone sprechen, wo es keinen Müll, keine aufgeschlitzten Sitzpolster und keine Graffiti gibt. Der Autor Ko Machida lädt in ein Café in Roppongi, einem der reichsten Viertel der Stadt, wo sich auch die Botschaften angesiedelt haben. Das Glitzercafé gleich neben dem Store von Versace, das er ausgesucht hat, passt nicht zu ihm, denn Ko Machida, der bislang noch nicht in Deutschland verlegt wurde, ist in die japanische Literaturgeschichte als Punk eingegangen. Als siebzehnjähriger Sänger der Band Inu (Hund) schrieb er folgende Songzeilen: „Die Geschichte Japans ist ein Verbrechen, ein blutbeflecktes Schwein, das heute immer dicker wird, bis es verrottet, und das macht mich wütend …“

Heute, 23 Jahre später, hat Ko Machida dem nicht viel hinzuzufügen. Bis zum 11. März hat sich wenig geändert in Japan, sagt er mit leiser Stimme, leicht vernuschelt, ein bisschen gelangweilt auch. Die Leute haben nichts dazu gelernt. Sie haben nichts aus den Atombomben in Hiroshima und Nagasaki gelernt, sie haben nichts von Tschernobyl gelernt. Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg brauchten sie die Atomkraft als Symbol für den Fortschritt, als Symbol für eine glänzende Zukunft. Ko Machida erinnert sich, wie er selbst Fan von Astro Boy war, dem niedlichen Roboterjungen, der mit Atomenergie betrieben wird. Es fällt das Wort Gehirnwäsche. Aber jetzt geht es so nicht weiter, sagt er dann. Es ist Zeit, dass Zweifel aufkommen, dass sie ihre Sicherheiten aufgeben. Japan muss aus seinem Dornröschenschlaf erwachen.

Ko Machida war einmal ein Rebell. In diesem teuren Café wirkt er eher wie eine seiner eigenen Romanfiguren, der vom Aufstand redet, ihn aber sicher selbst nicht mehr proben wird. Oder auch wie einer der Helden Haruki Murakamis – des wohl berühmtesten japanischen Autors, der leider so gut wie nie Interviews gibt: Müde, zerknautscht, desillusioniert – und nicht mehr herauszubekommen aus seiner gemütlichen Ecke, in der sich nur die vermeintlichen Narren tummeln.

Zur Erinnerung: Haruki Murakami, etwa zehn Jahre älter als Ko Machida, führte eine Zeit lang einen Jazzclub, bevor er begann, in seinen Romanen und Kurzgeschichten von der leeren Endlosrille zu schreiben, in der sich seine Generation verfangen hat, die schon nichts mehr mit den Glücksversprechen seiner Eltern anfangen konnte, als sie noch funktionierten. Sie zweifeln, allerdings eher leise und verwischt. Denn sie sind Männer ohne Eigenschaften, leben meist einsam und zurückgezogen. Sein sympathischster Held, Toru Watanabe in „Naokos Lächeln“, besucht Ende der Sechzigerjahre die Universität, als auch in Japan die Studentenrevolte begann. Aus den verkrampften Wortgefechten und Barrikadenkämpfen seiner Kommilitonen, an die noch heute viele Japaner mit Grausen denken, wenn sie über Protestkultur reden, hält er sich lieber raus. Er fühlt sich machtlos und ausgeliefert. Ob er sich auch so gefühlt hätte, wenn er es mit den Aktivisten von heute zu tun gehabt hätte? Haruki Murakami jedenfalls hat sich zu Fukushima in einer Weise geäußert, die nicht gerade als leise zu bezeichnen ist. In einer Rede anlässlich einer Preisverleihung in Barcelona sagte er: „Ich weiß nicht, warum, aber die Japaner sind ein Volk von Menschen, die fast nie wütend werden. Es ist ihre Stärke, geduldig zu sein, aber sie können kaum starke Emotionen ausdrücken … Aber ich glaube, dass diesmal selbst die Japaner ernsthaft wütend werden.“

Japan in der Sackgasse

Es ist Abend geworden, am anderen Ende der Stadt wartet ein Freund mit Frau und Kind. Sie wollen ganz konventionell in einem Izakaya einkehren, in einer jener rustikalen Kneipen, wo das Essen einfach ist und oft ganz besonders gut. Radical Suzuki ist ein erfolgreicher Illustrator und Cartoonist, dessen Figuren an Mangas erinnern, denen aber menschliche Züge eingehaucht sind. Wie viele Künstler in Japan hat auch er versucht zu helfen. Mit ein paar Kollegen hat er ein Buch organisiert, dessen Erlöse an die Erdbebenopfer ging.

Mit großem Respekt spricht er vom Engagement gegen Atomkraft bekannter Kulturgrößen wie Ryuichi Sakamoto oder Kenzaburo Oe, dem Gewissen der Nation, der heute vom „Verrat an den Opfern Hiroshimas“ spricht. Auch von flippigen Künstlergruppen wie Chim Pom hat er gehört, die direkt nach dem Unfall nach Fukushima gingen und dort Filme mit den freiwilligen Helfern drehten. Begeistert erzählt er auch von The Group 1965, einem Künstlerkollektiv um den Konzeptkünstler Tsuyoshi Otsawa, der in Fukushima seine „Vegetable Weapons“ ausstellte, Gemüse in Waffenform also, die diesmal aus der Region stammten, also nicht nur gefährlich aussahen, sondern auch kontaminiert waren.

Radical Suzuki bewundert aufmüpfige Ruhestörer wie diese. Vor Kurzem wären sie von vielen in Japan bestenfalls belächelt worden. Doch nun hören ihnen immer mehr der sogenannten Normalbürger zu, denen sich auch Radical Suzuki zugehörig fühlt. Denn er selbst mag sich nicht allzu kritisch äußern. Seine Frau Shiho, die ebenfalls Illustratorin ist, versucht das zu erklären. Ihre Stimme wird lauter, als sie von der Informationspolitik ihrer Regierung spricht. Allerdings: Auf die Straße gehen, das können sie als Eltern nicht, meint sie. „Ich kann nichts tun, als meiner Tochter Werte zu vermitteln, die völlig anders sind“, fügt sie an.

Am Nebentisch hört eine zweite Familie zu. Als der Mann das dritte Kännchen Sake bestellt, beginnt er zu reden. Zunächst prahlt er, einmal in der Schweiz gelebt zu haben und nicht so viel arbeiten zu müssen wie viele seiner Landsleute. Weltmännisch versucht er sogar einen schüchternen Witz über die radioaktive Verseuchung. Seine Frau verdreht die Augen. Als der Abend fortschreitet, mehr Bier und mehr Sake geflossen sind, da werden sich die Familien einig: Japan steckt in einer Sackgasse, und das seit Jahrzehnten. Es muss sich verändern. Zwar fühlen sie sich selbst machtlos. Aber es macht ihnen Hoffnung, dass immer mehr Leute aus dem System aussteigen, in das sie selbst vielleicht für den Rest ihres Lebens eingekeilt bleiben. Dass morgen wieder eine Demo stattfindet, dass einige dieser jungen Querulanten einfach nicht aufhören, auf die Straße zu gehen, macht sie fast ein wenig stolz.

Aufstand der Amateure

Koenji ist einer der wenigen Stadtteile Tokios, wo sich ein Sonntagmittag auch nach Sonntagmittag anfühlt – zumindest nach westlichem Gefühl. Der Ort ist berühmt für seine Gemächlichkeit, für die Boheme, die hier ihre Tage in winzigen Cafés und Buchläden verschlendert und manchen deutschen Besucher ans Hamburger Schanzenviertel erinnern mag oder an Berliner Stadtteile wie Kreuzberg oder Schöneberg. Im Sanshi-no-mori-Park ist schon kaum mehr ein Stehplatz zu finden.

Auf den ersten Blick sind mehr als tausend Leute zur Demo gekommen, später werden die Organisatoren von mehr als dreitausend sprechen. Die Sonne scheint, die Vögel singen, die Stimmung ist lustvoll bis heiter. Die Farbe der Bewegung ist Gelb, deshalb tragen viele gelbe Armbinden oder gelbe Schilder mit Transparenten, auf denen auf Englisch und Japanisch „No Nukes“ zu lesen steht, „Save our children“ und „I still find Hope“.

Viele junge Leute sind da, Leute mit Rastas, Gitarren, zerschlissenen Jeans, aber es stehen auch Frauen um die vierzig in braven Daunenmänteln zusammen, Mütter mit Kinderwägen, eine Menge alter Leute. Es gibt Menschen mit Bauhelmen, Menschen mit Gasmasken, Leute, die sich als Clowns, Geishas oder Tiere verkleidet haben. Diese Demo ist eine Anti-AKW-Demo, ja. Sie erinnert aber auch an einen Christopher Street Day oder an eine frühe Loveparade. Denn hier geht es eben nicht nur um Politik, sondern auch um Selbstermächtigung, die Sehnsucht nach mehr Teilhabe, die Feier eines abweichenden Lebensstils. Als der Zug endlich in Bewegung kommt, teilt die Polizei die Demonstration in kleine Blöcke.

Plötzlich schieben ein paar junge Leute in Lederjacken ein Gefährt aus groben Dachlatten in den Zug. Einer von ihnen schenkt mit strahlenden Augen Tequila, Rotwein und Tee an alle aus. Der schmächtige Mann mit dem „Occupy Wallstreet“-Schriftzug auf dem Rücken ist Hajime Matsumoto, das weiß hier jeder.

Hajime Matsumoto ist Gründer von Shiroto No Ran, dem Aufstand der Amateure – einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter, die vorsichtig tastend etwas Neues versuchen. Er betreibt einen von einer Handvoll Secondhandshops im Viertel, Inseln des Experiments und der Zugehörigkeit, und auch er war wie Narita unter den Organisatoren der ersten Demo vor einem knappen Jahr. Als Student bewarf er seinen Unipräsidenten mit Farbbeuteln und musste vier Monate ins Gefängnis. Weihnachten vor fünf Jahren wurde er abgeführt, weil er in einer Einkaufsstraße Armeleuteessen verteilte, um die Passanten auf ihre Warenseligkeit aufmerksam zu machen.

Auch ihm, so wird er später in seinem Laden voll gebrauchter Uhren, Lampen, Instrumente, Staubsauger und Telefone erklären, geht es darum, einen Raum zu schaffen, in dem Geld die kleinere Rolle spielt. Und noch einmal fallen sie, die großen Worte: Entschleunigung zum Beispiel. Oder auch Nachhaltigkeit.

Während Hajime Matsumoto Getränke ausschenkt, erzählt er, dass die Demo diesmal nicht vom Aufstand der Amateure organisiert worden ist, sondern von den Anwohnern. Viele Menschen in den Häusern, an denen die Demo vorbeigeht, hängen nur die Betten aus den Fenstern. Es gibt aber auch einige, die zustimmend winken, gelbe Luftballons steigen lassen oder Bonbons verteilen. Ein Plattenladen, an dem es vorbei geht, wirbt mit einem „No Nukes“-Konzert.

Vielleicht ist diese Bewegung nur eine kleine Abweichung, die bald wieder vergessen sein wird. Sie könnte auch ein Zeichen sein. Vielleicht hat Japan es mit einem großen Wendepunkt zu tun.

Susanne Messmer ist als taz- Autorin in Berlin, Peking und neuerdings Tokio unterwegs