: „BürgerInnen werden unterschätzt“
TEILHABE Emanuel Richter hält nichts vom Begriff der Postdemokratie
■ 58, ist Professor für Politische Systeme und Comparative Politics an der RWTH Aachen.
Foto: privat
taz: Herr Richter, Italien und Griechenland werden von PolitikerInnen regiert, die nicht vom Volk gewählt wurden. Sind wir in der „Postdemokratie“ angelangt?
Emanuel Richter: Ich habe den Begriff schon immer für völlig unangemessen gehalten. Man müsste vielmehr von Prädemokratie sprechen. Denn die eigentliche Idee der Demokratie ist noch nicht ausgeschöpft. „Post“ suggeriert stattdessen, dass die Demokratie vorbei ist – als ob sie durch etwas Neues ersetzt wird. Ich glaube nicht, dass das stimmt.
Kann die Krise auch das Gegenteil von Postdemokratie bewirken: Die Menschen fühlen sich in ihrer Existenz bedroht und engagieren sich mehr?
Die Fähigkeit der BürgerInnen, sich politisch selbst zu organisieren, wird notorisch unterschätzt. Viele Wähler trauen politische Professionalität nur Eliten zu. Glücklicherweise gibt es aber immer wieder Formen des Aufbegehrens.
Welche Formen meinen Sie?
Ich spreche von Bewegungen wie „Occupy“ oder der Piratenpartei. Diese sind erfolgreich und authentisch. Und sie zeigen, dass die BürgerInnen viel politisierbarer und demokratisch aktivierbarer sind, als gemeinhin gedacht.
Aber eine zentral organisierte europäische Protestbewegung fehlt bisher.
Ansatzweise gab es sie zum Beispiel bei den von Greenpeace organisierten Protesten gegen die Versenkung der Ölplattform Brent Spar. Aber eine zentrale europäische Bewegung existiert nicht, lediglich einheitliche Themen.
Wäre eine zentrale Bewegung nicht effektiver?
Ich bin sehr skeptisch, ob so etwas überhaupt gebraucht wird. Denn das würde auch bedeuten, sich an politische Muster anzupassen und einen Teil der Protestfantasie aufzugeben. Es wäre ein Zugeständnis an feste Ordnungsmuster – und gerade gegen solche Strukturen richtet sich der Protest.
Wie können die BürgerInnen trotz loser Organisation zu mehr Engagement ermutigt werden?
Die Menschen sollten mehr in politische Projekte eingebunden werden. Das muss im Kleinen auf lokaler Ebene beginnen. In manchen Kommunen können BürgerInnen über den städtischen Haushalt mitbestimmen. In Freiburg etwa hat sich gezeigt, dass sich die Menschen engagieren und sehr abwägend entscheiden. Außerdem sind sie viel zufriedener mit dem Ergebnis, wenn sie es mitgetragen haben.
INTERVIEW: TOBIAS BRUNNER