: Bedenken gegen die EU-Verfassung
betr.: „Wir haben eine Denkblockade“ von Christian Rath, „Das wichtigste Buch Europas“, etc., taz vom 6. 5. 05
Warum sollte ich mich für die EU-Verfassung interessieren? Die Bundestagsparteien haben die Bürgerinnen und Bürger konsequent von der Entwicklung und der Diskussion dieses Papiers ausgeschlossen. Die Verfassung wird nun über die Köpfe von 80 Millionen Einwohnern hinweg von 600 machtarroganten Männeken im Bundestag ratifiziert. Da der Bundestag kein Mandat dafür erhalten hat, dürfte die EU-Verfassung auch nur Gültigkeit für ebendiesen Bundestag haben. Ich verstehe eine Verfassung als einen Vertrag zwischen allen Bürgerinnen und Bürgern, mit dem sie die grundsätzlichen Spielregeln des Staates festlegen. Wegen der fundamentalen Bedeutung kann ein solcher Vertrag nur von den Vertragspartnern selbst geschlossen werden – also per Volksabstimmung wie in Frankreich, Spanien oder Großbritannien. In Deutschland denken die Parteispitzen anders: Sie halten den Bürger wie in den alten Tagen des Obrigkeitsstaates für unmündig, über sein Schicksal zu entscheiden. Jetzt müssen sich die Funktionäre nicht wundern, wenn sich niemand für ihre Privat-Verfassung interessiert.
SVEN HAGEMANN, Wolfenbüttel
Während in Frankreich die Diskussionen über eine „Verfassung für Europa“ öffentlich mit großer Anteilnahme geführt werden, bemühen sich in Deutschland allenfalls außerparlamentarische Gruppen wie Attac oder die Gewerkschaften um eine kritische Auseinandersetzung. Da die wirtschafts- und machtpolitischen Ziele aller im Parlament vertretenen Parteien – außer PDS – in dem Vertragswerk angemessen repräsentiert sind, haben sie an einer öffentlichen Beteiligung vor dem Parlamentsbeschluss am 12. Mai gar kein Interesse.
Das wird der Zustimmung im Parlament keinen Abbruch tun – wohl aber der demokratischen Legitimation einer Europäischen Verfassung und der Glaubwürdigkeit der politischen Gremien. Ohnehin liest sich die Verfassung für Europa in weiten Teilen wie der Wirtschafts- und Handelsvertrag einer neoliberalen Lobbygruppe. Gleich an mehreren zentralen Stellen („Ziele der Union“, Präambel der „Charta der Grundrechte“ und „Binnenmarkt“) hebt die Verfassung die Doktrin eines Marktes „mit freiem und unverfälschten Wettbewerb“ (I-3) hervor: Die Union „stellt den freien Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit sicher“ (Präambel). Alle „Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Union“ sind verboten (III-144). Und: „Die Liberalisierung der … Dienstleistung der Banken und Versicherungen wird im Einklang mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs durchgeführt“ (III-146).
Die neoliberalen Markt- und Standortideologien mit den erfahrbaren Folgen der wachsenden Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit und Verarmung bei gleichzeitig steigenden Konzerngewinnen sollen damit für die nächsten Jahrzehnte Verfassungsrang bekommen. Ergänzt werden sie durch eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die „der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen sichert“ – auch für „Missionen außerhalb der Union“. Dafür sind die Staaten verpflichtet, „ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Eine Verteidigungsagentur soll den operativen Bedarf ermitteln und die notwendigen „Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors“ ermitteln und durchführen (I-41).
So wichtig der exponierte Beitrag der taz zu einer Diskussion über einen militärisch bewährten neoliberalen Wirtschaftsvertrag mit Verfassungsrang ist: Leider lässt sie zentrale Informationen außer Acht und liefert eine banale, oberflächliche Bewertung.
GEORG RAMMER, Karlsruhe
Sechs Tage vor der Abstimmung im Bundestag greift die taz dieses Thema viel zu spät auf, um rechtzeitig eine Diskussion über die Inhalte der Verfassung auszulösen. Auch die versuchten Bewertungen einiger Punkte spricht nicht für eine kritische Distanz.
So spricht Christian Rath zwar von der Stärkung unserer direkt gewählten Vertreter und von der Dominanz des Rates als Gesetzgebungsorgan. Es fehlt jedoch der Hinweis darauf, dass dem EU-Parlament, dem einzig demokratisch legitimierten Organ, das Recht auf Gesetzesinitiative verwehrt ist. Dieser Recht bleibt der Kommission vorbehalten. Die Bewertung der Grundrechte-Charta spricht von mehr Transparenz. An dieser Stelle wäre der Hinweis nötig, dass das Grundgesetz durch Art. 1 (3) die drei staatlichen Gewalten bindet. Sie haben dadurch alleroberste Priorität und können nicht eingeschränkt werden. Dagegen gelten für die in der Grundrechte-Charta verankerten Grundrechte Bedingungen und Grenzen.
Ich frage mich da, wo sind wir in Europa inzwischen hingekommen? Welche Volksvertreter haben wir gewählt, die einer solchen Verfassung am 12. 5. 2005 aller Wahrscheinlichkeit zustimmen werden? WOLGANG BAUER, Untergruppenbach
Ich bin enttäuscht von der Berichterstattung meiner taz zur geplanten EU-Verfassung. Sie kommt in meinen Augen viel zu spät und zu unkritisch daher. Es stimmt eben leider nicht, dass der EU-Verfassungsvertrag „das Soziale als grenzüberschreitende, europäische Aufgabe“ (taz, 28. 4.) begreift. Was als Grundlage von Gemeinschaft anerkannt wird, das ist die Öffnung der Märkte aller Mitgliedsstaaten. Ein Sektor „öffentlicher Dienste“ und dessen Schutz ist dabei nicht mehr vorgesehen.
Durch die EU-Verfassung ist der Zugang aller zu Wasser, Gesundheit, Verkehr oder Bildung also noch mehr in Gefahr als jetzt schon (ein Problem, das in dem Zehn-Punkte-Artikel der taz vom 6. 5. zum Verfassungsvertrag gar nicht vorkommt!). Auch die ersten beiden Teile der Verfassung können dieses Defizit nicht wettmachen. Zu sehr sind die hier angeführten Grundrechte von Kompromissen gekennzeichnet. So finden wir hier das Recht der EU-BürgerInnen zu heiraten (welch ein Fortschritt!), nicht aber ein Recht auf Scheidung (oder gar Abtreibung – Gott bewahre!). Man kann es selbstverständlich für sinnvoll halten, mit Ländern eine Europäische Union zu bilden, die andere diesbezügliche nationale Regelungen haben. Ob man sie sich aber in Form eines europäischen Vertrages mit auf die eigenen Fahnen schreiben muss, das möchte ich bezweifeln!
BEN KRAMM, Toulouse, Frankreich
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