: Stahl boomt auch fürs Arbeiterkonto
Die IG Metall freut sich über einen guten Tarifabschluss in der Stahlbranche. Sie wertet ihn als Signal für einen längst fälligen Richtungswechsel: dass auch die Arbeiter vom Erfolg ihrer Branche profitieren und nicht nur die Aktionäre und Vorstände
VON THILO KNOTT
Die IG Metall spielte die Müntefering-Karte. Die Gewerkschaft sah in den Tarifverhandlungen in der Stahlbranche den hochpolitischen Kampf um eine Richtungsentscheidung. Auch die Beschäftigten müssten vom Boom in der Stahlbranche profitieren und nicht nur die Vorstände und Aktionäre, nahm die Gewerkschaft die Kapitalismuskritik vom SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering als Argumentationshilfe dankend auf. Jetzt, nach dem Abschluss in der Nacht zum Mittwoch, sagte Berthold Huber, 2. Vorsitzender der IG Metall, die Einigung sei ein „Erfolg gegenüber dem Shareholder-Value-Kapitalismus“.
Der „Erfolg über den Shareholder-Value-Kapitalismus“ sieht so aus: Die IG Metall und der Arbeitgeberverband Stahl einigten sich auf einen Abschluss, der ab 1. September 3,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt für die 85.000 Beschäftigten vorsieht. Eine Einmalzahlung von 500 Euro wurde für die Monate April bis August vereinbart. Auszubildende erhalten eine Einmalzahlung von 100 Euro. Der Tarifvertrag läuft bis August 2006.
Ist das ein Erfolg über den „Sharholder-Value-Kapitalismus“? Reinhard Bispink, Leiter des WSI-Tarifarchivs, spricht von einem „positiven Signal, das für die künftige Lohnpolitik anregend wirken kann“. Zumal die Lohnerhöhung (netto sind es 2,5 bis 3 Prozent auf 12 Monate) alles übertreffe, was „wir bisher in der Tarifrunde gesehen haben“, sagte Bispink der taz. „Wenn Gewerkschaften betrieblich stark verankert sind, lässt sich auch etwas bewegen.“
In den Stahlbetrieben ist die IG Metall stark verankert. Nicht nur deshalb stellte sich in Gewerkschaftskreisen die Frage: „Wenn wir es in der Stahlindustrie nicht schaffen, wo dann?“ In anderen Tarifverhandlungen – ob in der Druckindustrie, dem Einzelhandel oder dem Öffentlichen Dienst der Länder – sind die Gewerkschaften in der Defensive. Dort stellen die Arbeitgeber die Forderungen: Kürzungen bei Lohn und Gehalt, bei Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich.
Die Stahlindustrie dagegen steht famos da. Die deutschen Betriebe arbeiten vor allem wegen der Nachfrage aus China an den Kapazitätsgrenzen. Deutschlands größter Stahlkocher ThyssenKrupp verdoppelte im Geschäftsjahr 2003/2004 sein Betriebsergebnis auf 1,6 Milliarden Euro. Konkurrent Salzgitter meldete ebenfalls Rekordergebnisse.
Alles andere als ein „guter Abschluss“ (Berthold Huber) wäre den 85.000 Beschäftigten nur schwer vermittelbar gewesen. Die IG Metall hatte deshalb einiges aufgefahren in den Verhandlungen. Am Dienstag erklärte sie die Gespräche mit den Arbeitgebern zunächst für beendet und beraumten eine Urabstimmung über Streiks in Nordrhein-Westfalen, Bremen und Niedersachsen an. Es wäre der erste Streik in der Stahlindustrie seit 1978 gewesen. Sogar die sieben Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Automobilhersteller bekundeten Solidarität mit den Stahlbeschäftigten.
Der Arbeitgeberverband Stahl lenkte schließlich ein. Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes, Volker Becher, sprach von einem „schlechten Kompromiss“ im Zeichen der Streikdrohung. Martin Kannegiesser, Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, kritisierte, die „überproportionale Lohnerhöhung“ werde „voll in die Preiskalkulation eingehen“.
Warum Gesamtmetall dem Arbeitgeberverband Stahl so vehement zur Seite sprang, ist klar: Sie haben den gleichen Verhandlungspartner – die IG Metall. Also wollte Gesamtmetall den Eindruck zerstreuen, der Stahl-Tarifabschluss hätte eine Signalwirkung: „Die Ausgangslage in der Stahlindustrie ist mit keiner anderen Branche vergleichbar.“
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