: Das Ende der Metzgerei
Pioniere im theatralen Raum: Auf dem Stückemarkt des Theatertreffens in Berlin werden neue Theatertexte vorgestellt. Auf Inseln und in engen Dörfern beobachten sie das Leben als Modell
VON ANNE KRAUME
Angesichts der Temperaturen in Berlin, die sich an diesem Abend nur wenig oberhalb des Gefrierpunktes bewegen, wird die südliche Insel aus dem Garten der Berliner Festspiele kurzerhand nach drinnen verlegt. Für die erste Lesung des Stückemarktes, der traditionell das Theatertreffen in Berlin begleitet, stehen vor den großen Fenstern des Foyers zwei gestreifte Hollywoodschaukeln, begrenzt von einer Reihe karger Kakteen. Wassergläser suggerieren brütende Hitze.
Jedes Jahr stellt der Stückemarkt junge Autoren vor. Seit drei Jahren sind nun nicht nur deutschsprachige Einsendungen, sondern auch solche aus ganz Europa zugelassen. Durch einen Stapel von 551 Stücken musste sich die Jury in diesem Jahr kämpfen; sieben davon wurden ausgewählt und konkurrieren jetzt um den Förderpreis für junge Dramatik, der heute im Anschluss an die szenischen Lesungen vergeben wird. Die Zahl der Uraufführungen an deutschen Bühnen ist in derselben Zeit nicht parallel angestiegen, doch das schreckt die jungen Autoren nicht ab, sich als Pioniere in den Raum des Theaters zu begeben.
Die Neuentdeckung dieses theatralen Raumes und seiner Möglichkeiten macht der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann in einer einleitenden Diskussion als ein Kennzeichen der neuen Dramatik aus. Er knüpft mit dieser Feststellung an das Thema an, das sich das Theatertreffen in diesem Jahr verordnet hat: Es geht um Heimat, und Lehmann betont: „Zunächst einmal ist ja die Bühne die Heimat!“ Die große Gemeinsamkeit der sieben Stücke scheint denn ihr ausgeprägtes Interesse für die Orte zu sein, die sie in den Szenen erschaffen.
Die südliche Insel in der Kassenhalle bildet den Rahmen für Johannes Schrettles Stück „Dein Projekt liebt dich“. Zwei junge Männer und eine Frau wollen auf der Insel ein humanitäres Projekt aufbauen und zu seiner Finanzierung haben sie afghanisches Heroin auf die Insel geschmuggelt. Als aber bei den dreien sehr schnell der Glaube an das gemeinsame Projekt zu schwinden beginnt, wird deutlich, dass in ihrer Suche nach immer neuen Konzepten eine ganz grundsätzliche Orientierungslosigkeit zum Ausdruck kommt. Ihre Verunsicherung kann auch der abgeschlossene Raum der Insel nicht aufheben.
Johannes Schrettles Insel bleibt nicht die einzige – auch die politische Parabel „Eisgeneral“ der kroatischen Autorin Sibila Petlevski zieht sich auf eine ferne Insel zurück. In diesem Stück werden in der Unbestimmtheit der Insel Fragen nach Erinnerung und Schuld verhandelt, während der Raum ringsum ganz offensichtlich durch eine Katastrophe ausgelöscht worden ist. Wie bei Johannes Schrettle bildet die Insel auch hier einen Gegensatz zum Kontinent Europa: einmal, bei Schrettle, in dem utopischen Traum von einer neuen und gerechten, dann, bei Petlevski, in dem endzeitlichen Albtraum von einer unsterblichen und zur Ewigkeit verdammten Gesellschaft.
Die Abgeschlossenheit der Inseln ist ein Moment, das sie mit den Räumen zweier anderer Stücke teilen: „Blutiges Heimat“ von Juliane Kann ebenso wie „Landmetzgerei Hümmel“ von Stefan Finke spielen im eng umgrenzten Raum einer Dorfgemeinschaft. Beide ähneln sich auch in der Frage nach den Verstrickungen, die eine solche ländliche Enge hervorruft: Während in „Landmetzgerei Hümmel“ die lange blutige Tradition einer Metzgersfamilie in der Provinz abbricht, beschäftigt sich „Blutiges Heimat“ mit den Machtstrukturen rund um einen Schweinemastbetrieb. Sind es bei Finke jedoch zu gleichen Teilen innere wie äußere Auslöser, die das Ende der Metzgerei bewirken, so schafft Kann einen klaustrophobischen Kosmos von Inzest, Neid und Missgunst, dessen „Insichgeschlossenheit“ nicht zuletzt in der befremdlichen Kunstsprache zum Ausdruck kommt, deren sich die Figuren im Stück bedienen: Blutiges Heimat, eben.
Diesen provinziellen Orten fügt Nicolai Borgers Stück „Plastik“ dann den anonymen Raum der fiktiven Stadt Apokanata hinzu. Dort entspinnt sich ein Ränkespiel um Geld, Gier und Machtmissbrauch im Popstar- und Kleinkriminellenmilieu. Gerade weil das gesichtslose Apokanata überall sein könnte, wird hier ein weiteres Merkmal der neuen Stücke deutlich: Allzu oft dient ihre Betonung des Ortes nicht dazu, einen unverwechselbaren Ort zu schaffen, sondern eine allgemeingültige Aussage über alle nur denkbaren Orte zu treffen.
So bleibt auch im Vagen, wo genau sich die junge Frau und der alte Mann in Nina Mitrovis „Das Bett ist zu kurz oder nur Fragmente“ treffen: In einem Sterbezimmer, nur so viel ist klar, dessen Bett dem alten Mann zu kurz ist, so wie der jungen Frau ihr ganzes Leben irgendwie zu kurz ist.
Seine endgültige Öffnung erfährt der theatrale Raum schließlich in dem „Seefahrerstück“ von Oliver Schmaering. Hier vereinen sich Stimmen aus allen Kontinenten und Epochen, um auf einer gemeinsamen Reise die christliche Seefahrt wieder auferstehen zu lassen. Der Rahmen dieses Stückes sind die Weltmeere, und allein das Berliner Wetter ist schuld, dass man beim Stückemarkt nicht auch unmittelbar ein Gefühl dafür bekommt: Auch diese Lesung muss nämlich kurzfristig vom Schiff auf der Spree in einen geschlossenen Raum verlegt werden. Dennoch: ob nun auf den Planken eines Schiffes oder auf Bühnenbrettern – die neuen Stücke bieten so viele Geschichte und Themen, dass sie hoffentlich in vielen Theaterräumen eine Heimat finden werden.