„Es gibt keinen freien Willen“

Ein Suchtentzug hat nur Erfolg, wenn jemand sein Verhalten wirklich ändern will? Nein, sagt Andres Brunk

taz: Muss ein Patient, den Sie behandeln, den festen Willen haben, mit der Sucht zu brechen?

Andreas Brunk: Nein. Plakativ formuliert: Es gibt keinen freien Willen. Wenn jemand beispielsweise sagt: „Ich will nicht mehr trinken!“, dann schwächt er sich, weil diese Aussage unbewusst eine Lüge ist. Die Krankheit besteht doch darin, dass man trinken will. Die Kunst ist es, sich einzugestehen, dass die jetzige Lebenssituation nicht das Ende des eigenen Schicksals ist. Dann kann mit dem Willen zu trinken bewusst umgegangen werden.

Bei den Ursachen von Sucht gibt es einen Disput zwischen Biografikern und Biologisten. Was vertreten Sie?

Die Frage nach der Ursache von Sucht kommt auch von Patienten. Söhne von Suchtpatienten haben eine 3,5-fach größere Aussicht, auch suchtkrank zu werden. Wenn ich Pianist werden will, brauche ich eine Begabung. Aber ich muss auch tüchtig üben. Ähnlich verhält es sich mit der Anlage zur Sucht und der manifesten Suchtkrankheit.

Sowohl Anlage als auch erlerntes Verhalten verursachen Sucht?

Das mit den Ursachen von Krankheiten ist so eine Sache. Eindeutige Verknüpfungen von Ursache und Wirkung finden nur in toter Materie statt. Im belebten Zustand sind nur Wirkungszusammenhänge zu erkennen. In der Medizin herrscht eine mechanistische Vorstellung vor. Doch diese wird dem Leben nicht gerecht. Sucht hat eine Geschichte. Es ist hilfreich diese Geschichte zu verstehen, um die Zukunft bewusst gestalten zu können.

Wie helfen Sie Süchtigen?

Es geht darum, eine reale Selbstwahrnehmung zu erlangen und diese mitzuteilen. Das ist der Kern der Suchtbehandlung.

Mit welchen Methoden gelingt dies?

Gerade bei dem Thema „Traumatisierung“ spielt die Bewegungstherapie eine große Rolle. Solch dramatische Ereignisse sind im Körpergedächtnis präsent. Die damit verbundenen Einschränkungen im Bewegungsapparat können zum Beispiel mit Eurythmie behandelt werden.

Körperliche Mobilität als Therapieziel?

Das wäre eine verkürzte Sichtweise. In der Bewegung äußert sich die Seele. Sucht ist ein emotionales Problem. Deshalb helfen auch keine Ratschläge. Ich unterscheide sechs wichtige Emotionen: Angst, Wut, Neid, Ekel, Trauer, Scham. Wenn der Suchtkranke bewusst mit diesen seinen Gefühlen umgeht, bringt er seine Krankheit zum Stillstand. Denn körperlich ist durch Suchtmittelwirkung die emotionale Selbstregulierung gestört.

Ob jemand zum Beispiel arbeitslos ist, spielt das keine Rolle?

Entscheidend ist die emotionale Verarbeitung der Arbeitslosigkeit. Natürlich ist es beispielsweise sinnvoll, mit verschuldeten Patienten zu einer entsprechenden Beratungsstelle zu gehen. Aber dadurch verändert sich die Suchterkrankung nicht. Die Patienten hier durchleben in hohem Maße Ohnmacht. Dieses Erleben durchzustehen ist eine Art Brückenkopf zu einem suchtfreien Leben.

Ohnmacht erleben, um suchtfrei zu werden?

Nicht nur Ohnmacht erlebt ein Patient in unserer Klinik. Es gibt Patienten, die haben sich so weit entwickelt, dass sie sagen „Ich bin froh, suchtkrank geworden zu sein“. Sie haben ihre Liebesfähigkeit wieder entdeckt, sind nicht mehr im reinen Nützlichkeitsdenken befangen. Ich will Sucht nicht romantisieren. Aber ein naiver Konsumismus ist für einen Suchtkranken nicht mehr möglich.

INTERVIEW: LUTZ DEBUS