Verlierer Öffentlichkeit

Die EU-Verfassung wird die Militär- und Rüstungspolitik noch weiter der demokratischen Kontrolle entziehen, als sie es schon ist. Eine Beteiligung an Kriegen wird erleichtert

Es klingt, als seien Invasionen legitim, wenn nicht böse Amis, sondern Europäersie durchführen

So geeint gab sich Europa selten. Die oft beschworene Zerstrittenheit in außenpolitischen Fragen war beim Souverän des demokratischen Europas kaum erkennbar, das zeigten alle Umfragen. Und doch lamentierten nicht wenige aus dem Brüsseler Zirkel der politischen Akteure und Beobachter über die drohende Spaltung Europas.

Wir schreiben das Frühjahr 2003. In der Tat waren die Regierungen in der Frage der bevorstehenden US-Invasion im Irak zerstritten. Doch von einem drohenden Auseinanderfallen Europas konnte nicht die Rede sein. Der europäische Souverän – die Bevölkerung – zeigte keine Anzeichen einer Spaltung.

Heute, nach mehr als zwei Jahren, werden ähnliche Szenarien verbreitet. Sollte der Verfassungsvertrag es nicht durch alle Parlamente und Referenden schaffen, würde das zumindest eine Verzögerung des europäischen Einigungsprozesses bedeuten. Unfreiwillig geben die Befürworter des Verfassungsvertrages damit eine kleine Vorschau darauf, wie europäische Außenpolitik künftig funktionieren soll: Es werden vorschnell Fakten geschaffen. Beschlüsse können zwar theoretisch noch gekippt werden, praktisch würden die einzelstaatlichen Parlamente aber dazu gedrängt, einmal in Brüssel bereits gefällte Entscheidungen mitzutragen. Eine breite öffentliche Debatte wird in einer solchen Konstellation erheblich erschwert.

In keinem Politikfeld bringt der Vertrag so viele detailliert beschriebene Neuerungen wie bei der Außen- und Militärpolitik. Und in keinem Feld gibt es so wenig demokratische Kontrolle. Die Gewinner sind vor allem die einzelstaatlichen Regierungen, die Verlierer die Parlamente und die kritische Öffentlichkeit. Schon jetzt, bei der Debatte über den Verfassungsvertrag, wird als antieuropäisch diskreditiert, wer sich gegen entscheidende Passagen des Abkommen stellt. Es ist unschwer auszumalen, wie in ein paar Jahren diejenigen zu Euroskeptikern, Antieuropäern und europäischen Verfassungsfeinden erklärt werden, die gegen ein neues Rüstungsprojekt oder eine militärische Intervention eintreten, das in Brüsseler Kungelrunden schon abgesprochen wurde.

Erleichtert wird dies vor allem durch programmatische Vorgaben im neuen EU-Vertrag, die in keine Verfassung der Welt gehören, schon gar nicht in die eines demokratischen Gemeinwesens. Am eklatantesten ist das im Vertragstext verankerte Aufrüstungsgebot. „Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“, heißt es in Artikel I-41. Eindeutiger kann eine Bestimmung nicht sein. Sie lässt sich nicht hinausinterpretieren.

Wer hier argumentiert, damit sei ja nur die Umrüstung zu effizienteren Streitkräften gemeint, zeigt damit nur, wie veraltet seine Vorstellungen von Kriegen und Rüstungsdynamik sind. Natürlich geht es heute nur noch um qualitative Aufrüstung, die sich über militärische Schlagkraft definiert. Niemand denkt heute noch an schwere Panzer für den massenhaften Aufmarsch in der Norddeutschen Tiefebene. In der Nato hat dieser Prozess den schönen Namen „Transformation“. Gemeint ist immer dasselbe: die Umwandlung der europäischen Verteidigungsarmeen hin zu Interventionstruppen.

Und damit das mit der „Verbesserung“ auch nicht vergessen wird, genießt die „Europäische Verteidigungsagentur“ (mit Artikel II-311) auch noch Verfassungsrang. Sie soll unter anderem „Ziele im Bereich der militärischen Fähigkeiten“ festlegen und dann beurteilen, „ob die von den Mitgliedstaaten in Bezug auf diese Fähigkeiten eingegangenen Verpflichtungen erfüllt werden“. Die ist zwar schon eingerichtet – aber genösse sie erst Verfassungsrang, wäre ihre Arbeit quasi unangreifbar.

Begründet werden diese aufrüstungsfreundlichen Regelungen des Verfassungsvertrages gern mit der vermeintlichen Notwendigkeit, ein Gegengewicht zur Militärmacht der USA aufzubauen. Zuweilen klingt dabei die Vorstellung durch, eine Invasion sei per se legitim, wenn sie nicht von den bösen Amerikanern, sondern den ach so lieben Europäern durchgeführt wird.

Dabei sucht man im Verfassungsvertrag vergeblich eine Klausel, die militärische Interventionen von Beschlüssen des UN-Sicherheitsrates abhängig macht. Der Verweis auf eine „Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen“ ist so unbestimmt, dass ihn auch George W. Bush und Dick Cheney unterschreiben könnten. Detailliert aufgeführt werden dagegen die möglichen Interventionsgründe – und die sind allesamt völlig kompatibel mit der umstrittenen Präventivstrategie der USA. Es muss ein wenig verwundern, wenn mitunter die gleichen Kommentatoren, die vor dem Irakkrieg die Proteste dagegen als antiamerikanisch diskreditierten, nun dafür plädieren, mit einer militärischen EU die USA in Schach zu halten – wie auch immer das funktionieren soll. Zumal die USA gegen eine Aufrüstung der Europäer sowieso nichts einzuwenden haben. Im Gegenteil. Washington fordert und fördert sogar den Aufbau europäischer Eingreiftruppen. Ob diese dann unter Nato-Flagge oder im Namen der EU eingesetzt werden, ist in der Praxis nebensächlich.

Natürlich verpflichtet die Verfassung rechtlich niemanden dazu, am nächsten Krieg nach dem Muster der Irakinvasion teilzunehmen. Aber es lässt sich ausmalen, wie schwierig es für Parlamente sein wird, gegen einmal von einem starken EU-Außenminister und seinem Stab gefällte Vorgaben zu opponieren.

Und man stelle sich einmal vor, zur Zeit des Irakkrieges wäre Javier Solana – der sich im Gegensatz zu einem Bundeskanzler keiner demokratischen Wahl stellen muss – in der starken Stellung gewesen, die der Vertrag vorsieht. Für Gerhard Schröder wäre es sehr viel schwieriger gewesen, ein kategorisches Nein zum Irakkrieg auszusprechen. Wahrscheinlich hätte er sich gar nicht darum bemüht – und stattdessen bequem auf seine Machtlosigkeit angesichts der gefällten europäischen Entscheidung verwiesen.

Künftig gelten wohl die als Antieuropäer, die gegen Brüsseler Rüstungsprojekte eintreten

Wer eine einheitliche europäische Außenpolitik als Selbstzweck betrachtet, der mag all das willkommen heißen. Wem es nebenbei auch noch auf deren Inhalte und auf demokratische Kontrolle ankommt, den muss diese Entwicklung besorgen. Besonders in einer Zeit, in der die EU-Staaten ihre militärischen Fähigkeiten und ihre erklärten Interventionsziele erheblich ausweiten.

Außenpolitik und Militärpolitik sind ohnehin die am wenigsten transparenten und demokratisierten Politikfelder. Der Verfassungsvertrag bietet den Regierungen der Einzelstaaten die Mittel, Entscheidungen in diesen Feldern noch weniger transparent, noch weniger demokratisch zu gestalten. Die Verantwortung kann nach oben abgewälzt werden. Tritt der Verfassungsvertrag in Kraft, werden es europäische Regierungen deshalb noch leichter haben, Rüstungsprojekte oder die Teilnahmen an einer militärischen Intervention durchzudrücken.

ERIC CHAUVISTRÉ