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Archiv-Artikel

Brüder im Geiste

Der Hypnotiseur als Urahn der Filmregie: Der Kölner Verleih Realfiction bringt Lars von Triers Europa-Trilogie wieder ins Kino. Sie folgt der Geschichte des Idealismus und der falschen Missionare

von SVEN VON REDEN

„Widerling, Verräter, Abtrünniger“, zischen die Kollegen dem jungen Dr. Mesmer zu. Sein Verbrechen heißt Idealismus. Dr. Mesmer will sich auf den Weg jenseits der Stadtmauern machen und die verbannten Kranken heilen. Eine angeblich unheilbare Seuche hat sie befallen, doch die Ärzte haben wenig Interesse daran, ein Gegenmittel zu finden. Denn die Epidemie garantiert ihnen eine neue Machtfülle: Die Regierung hat gerade abgedankt und den Weißkitteln die Verantwortung überlassen, die Ministerposten sind bereits unter den medizinischen Fakultäten verteilt.

Die Szene aus Lars von Triers „Epidemic“ spielt an einem nicht näher bestimmten Ort zu einer nicht näher bestimmten Zeit. Der Name Dr. Mesmer erinnert jedoch an einen echten Doktor: Der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer wurde Mitte des 18. Jahrhunderts berühmt durch seine Theorie des „Magnetismus animalis“. Mesmer glaubte, Menschen durch die Übertragung magnetischer Energie heilen zu können. Wissenschaftliche Gutachten verdächtigten ihn des Betrugs und der Scharlatanerie. Dennoch hatte er Heilerfolge vorzuweisen – sie beruhten jedoch eher auf Suggestion und Hypnose. Mesmer gilt immer noch als Vorläufer dieser Therapiearten.

Der bekennende Hypochonder Lars von Trier spielt den Dr. Mesmer selbst, eine Schlüsselrolle seiner bisherigen Karriere. Von Trier und Mesmer sind gewissermaßen Brüder im Geiste: Provokateure und Neuerer, die als Scharlatane gelten, als Genies oder als beides zusammen. Von Trier sieht Hypnotiseure als Urahnen der Filmregisseure, nicht zufällig durchzieht daher das Thema Hypnose seine gesamte Europa-Trilogie. In „Element of Crime“ (1984), von Triers Langfilmdebüt, wird der Kriminalbeamte Fisher zu Beginn von einem ägyptischen Hypnotiseur in die Vergangenheit zurückversetzt. Der folgende Film ist eine Rückblende in Trance, die der Hypnotiseur wie ein Regisseur beeinflusst, wenn ihm die Geschichte zu sehr den Hauptpfad verlässt.

„Epidemic“ (1987) schließt mit einer beängstigenden Szene, in der ein Medium – angeblich unter echter Hypnose gefilmt – einen Weinschreikrampf bekommt, als sie die Geschichte des Films erzählen soll. In „Europa“ (1991) soll das Publikum direkt in Hypnose versetzt werden: Zu Beginn wendet sich ein Hypnotiseur mit sonorer Stimme aus dem Off an die Kinozuschauer, während auf der Leinwand im Halbdunkel Gleisschwellen monoton dahinrasen: „Ich werde jetzt von eins bis zehn zählen …“

„Hypnovision“ nennt Lars von Trier diese Methode. Man kann sie als direkten Vorläufer des von ihm ab 1995 propagierten Dogma-Kinos verstehen – allerdings mit den umgekehrten Mitteln: Während die Dogma-Filme durch größtmögliche Unmittelbarkeit und Ungekünsteltheit das Publikum direkt am Geschehen teilhaben lassen wollen, erschafft von Trier in seiner Europa-Trilogie mit großem filmischem Aufwand und technischer Versiertheit eine irreale Atmosphäre, die die Zuschauer in einen tranceartigen Zustand eintauchen lassen soll. Es geht um die totale Immersion des Betrachters, nicht zufällig spielen daher Wasser und Ertrinkende in allen drei Filmen eine wichtige Rolle.

Gerade wenn man nur von Triers Minimalismus seit seinem Dogma-Film „Idioten“ (1997) kennt, der in „Dogville“ (2004) seinen bisherigen Höhepunkt fand, wird man verblüfft sein über die formale Meisterschaft seines Frühwerks. „Element of Crime“ ist komplett ohne natürliches Licht gedreht – gelbe Natriumlampen tauchen den ganzen Film in ein sepiafarbenes Zwielicht. „Epidemic“ wechselt zwischen körnigem 16-mm-Material in der pseudo-dokumentarischen Rahmenhandlung und makellos komponierten 35-mm- Schwarzweißaufnahmen in der eigentlichen Filmhandlung.

Der visuell atemberaubendste Film ist Lars von Trier jedoch mit „Europa“ gelungen. Im letzten Teil der Trilogie erforscht er die Natur des Farbfilms. Dazu filmt er aber nicht einfach in Farbe, sondern setzt einzelne bunte Tupfer in die Bilder, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu leiten. Er arbeitet mit Rückprojektionen in Schwarzweiß, die als Hintergründe für die farbige Handlung im Vordergrund fungieren. Anders als etwa bei einer Autofahrt in einem alten Hitchcock-Film setzt von Trier diese Projektionen jedoch zum Teil bewusst unrealistisch ein – Hintergründe werden grotesk aufgebläht oder in der Achse zum Vordergrund verschoben. Manchmal verbindet er diese Technik mit komplizierten Mehrfachbelichtungen, die den hypnotischen Effekt noch verstärken. Als von Trier für diese Fleißarbeit 1991 in Cannes nur mit dem Technikpreis ausgezeichnet wurde, ließ er an seiner Unzufriedenheit keinen Zweifel: Bei der Preisverleihung nannte er Jurypräsident Roman Polanski einen Zwerg.

Was jenseits der formalen Experimentierlust und „Hypnovision“ die Europa-Trilogie zusammenhält, ist schwieriger auszumachen. In allen drei Filmen geht es um einen Idealisten, der sich in eine fremde Umgebung begibt, am Ende aber genau das Gegenteil von dem erreicht, was er ursprünglich wollte. Direkt für Europa interessiert sich von Trier wenig, eher für Deutschland, das in allen drei Filmen eine wichtige Rolle spielt. Deutschland scheint für ihn eine Art Europakonzentrat, im Guten wie im Schlechten, an dem sich eine Kernfrage exemplarisch vorführen lässt: Kann am europäischen Wesen die Welt genesen?

Sie kann es offenbar nicht: Der Kriminalbeamte Fisher „fickt“ in „Element of Crime“ die asiatische Prostituierte Kim „in die Steinzeit zurück“; in „Epidemic“ stirbt ein schwarzer Priester, weil er sich wohl bei Dr. Mesmer angesteckt hat; in „Europa“ wird der amerikanische Idealist Leo Kessler zum Massenmörder, obwohl er eigentlich in das Nachkriegsdeutschland gekommen war, um ein Zeichen der Völkerverständigung zu setzen. Er hat sich von der deutschen Krankheit infizieren lassen.

„Alles Bedrohliche an Europa ist für mich in Deutschland zusammengefasst“, sagte von Trier 1991 in einem Interview. „Ich kenne Deutschland allerdings gar nicht so gut. Eigentlich bin ich meistens nur durchgefahren. Aber Deutschland ist faszinierend.“ Am Montag hat in Cannes „Manderley“ Premiere, von Triers dritter Teil der Amerika-Trilogie. In Amerika war der unter Flugangst leidende Regisseur noch nie. Von der US-Presse musste er dafür 2003 nach der Premiere von „Dogville“ ähnliche Beschimpfungen einstecken wie Dr. Mesmer in „Epidemic“. Es wird ihm eine Ehre gewesen sein.

„Element of Crime“, Regie: Lars von Trier. Mit Michael Elphick, Me Me Lei u. a., Dänemark 1984, 104 Min., am 10. März gestartet.„Epidemic“, Regie: Lars von Trier. Mit Lars von Trier, Udo Kier u. a., Dänemark 1987, 106 Min., gestartet am 12. Mai.„Europa“, Regie: Lars von Trier. Mit Udo Kier, Barbara Sukowa u. a., Dänemark/Schweden/Deutschland/Frankreich 1991, 112 Min., wird voraus. am 21. Juli in die Kinos kommen