Die Krankheit des Vergessens

Manchmal sagt sie seinen Vornamen. Aber das ist wohl eher wie bei einem Kleinkind, das seine Mama ruft, vermutet Wolfgang Reichert. Denn er weiß, dass seine Frau ihn nicht mehr kennt: Seit 14 Jahren leidet sie an Alzheimer. Und unerbittlich schreitet die Krankheit voran – bis zur völligen Hilflosigkeit

Aus Kiel PETER BRANDHORST

Man muss immer auf dem Sprung sein, hatte er vorhin gesagt, und jetzt steht Wolfgang Reichert neben dem Wohnzimmersessel, um seiner unruhig gewordenen 69-jährigen Frau daraus hoch zu helfen. Langsam geschieht das, mit vorsichtig stützenden Händen. „Wie geht’s dir, Jutta?“, fragt Ehemann Wolfgang dabei, „leg dich aufs Sofa und ruh dich ein wenig aus.“ Der Reporterbesuch greift nun zur Tasse, dreht sie in den Händen, trinkt ein paar Schluck Kaffee, und gleich wird Jutta Reichert sich erhoben und mit tippelnden Schritten die knapp zwei Meter bis zum Sofa geschafft haben, dabei orientierungslos und leer durch den Raum blickend.

Sie ist auch noch erkältet, sagt Wolfgang Reichert, das schwächt sicher zusätzlich. Seine Frau wird ihm mit Worten nicht beschreiben können, nicht jetzt und auch später nicht, wie gut oder schlecht es ihr geht, wie sehr Schwäche sie quält. Jutta Reichert ist an Alzheimer erkrankt.

Vor 14 Jahren waren erste Anzeichen erkennbar. Seither ist die Zersetzung ihres Hirngewebes weit voran geschritten, unaufhaltsam. Seit fast acht Jahren muss sie zu Hause gepflegt werden, vor zwei Jahren hat sie auch die Kontrolle über ihre Sprache verloren, kann bloß noch für die Umwelt meist unverständliche Laute von sich geben.

Es ist die Krankheit des Vergessens, erst langsam und irgendwann bis hin zur völligen Hilflosigkeit. „Sie ist inzwischen wie ein zweijähriges Kind“, beschreibt der 67-jährige Ehemann den Zustand, „ich muss alles für sie machen – sie anziehen, sie waschen, ihr zu essen und zu trinken geben.“ Bloß noch sporadisch kommen verständliche Wortbrocken über die Lippen. „Drei oder vier Mal im Jahr nennt sie plötzlich meinen Vornamen“, sagt Wolfgang Reichert, „das heißt dann aber nicht, dass sie mich auch als ihren Ehemann wahrnimmt. Das ist wohl wie bei einem Kleinkind, wenn es eine Frau sieht und diese Mama nennt.“

Damals, als sie langsam auf Ende 50 zuging, als sie noch nicht hilflos wie ein kleines Kind war, war Jutta Reichert eine Frau, die körperliche Bewegung liebte, die den Kontakt brauchte mit anderen Menschen. Zwanzig Jahre lang betrieben sie, die Schulsekretärin und der Beamte aus Kiel, aktiven Sporttanz im Verein, wanderten so oft es ging durch Feld und Flur. Dann die ersten Vergesslichkeiten. Verabredungen wurden versäumt, Orte verwechselt, Sachen nicht wiedergefunden. Es gab Löcher in bestimmten Bereichen, erinnert der Ehemann, Kleinigkeiten, dachte er, deswegen muss man doch nicht gleich verzweifeln. Die Menschen zu Hause und auf der Arbeit halfen, Dinge wieder in die Reihe zu bringen.

Und Jutta Reichert? Das hast du mir aber anders gesagt, erwiderte sie immer, wenn sie erneut eine Verabredung vergaß. Wie fast alle an Alzheimer-Kranken versuchte auch sie damals, sich mit Leugnen aus auffälligen Situationen zu befreien. Jutta Reichert vermochte die Pfade nicht zu erkennen, über die sie bereits irrte. Auch ihr Hausarzt nicht, zu dem sie zunächst ging, weil sie sich „nicht fühlte“ und der ihr „Überarbeitung“ bescheinigte. Aber schon längst hatte die Alzheimerkrankheit begonnen, die alte Persönlichkeit der Jutta Reichert zu verschlingen.

Gut eine Million Menschen sind bundesweit an Demenz (Geistesschwäche) erkrankt. Mit dem Anstieg der Alterspyramide wird die Zahl stark wachsen. Zwei Drittel von ihnen leiden an Alzheimer.

Der deutsche Neurologe Alois Alzheimer hat dieses Krankheitsbild 1906 erstmals beschrieben. Nervenzellen bauen sich im Hirn ab, während sich zwischen ihnen große Eiweißklumpen ablagern. Gedächtnis- und Orientierungsstörungen sowie Störungen des Denk- und Urteilsvermögens treten bald auf und machen irgendwann die selbstständige Bewältigung des alltäglichen Lebens unmöglich. Die Häufigkeit der Erkrankung nimmt mit dem Lebensalter zu, mehr als zwanzig Prozent der über 85-Jährigen sind betroffen. Bisher ist Alzheimer nicht heilbar, Medikamente können bestenfalls den Verlauf beeinflussen. Pflege und Betreuung von Alzheimerkranken kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, die zudem viel Zeit und Aufmerksamkeit einfordert. Zwei Drittel der Betroffenen werden zu Hause von Angehörigen begleitet, auch weil es in Deutschland zu wenig spezielle Pflegeeinrichtungen gibt. Familien und Freunde müssen zunächst lernen, die Krankheit zu verstehen. Und sie müssen verkraften, dass sich menschliches Wesen verändert hat und vertraute Personen plötzlich in fremden Welten leben.

Das ist ja so, sagt Wolfgang Reichert, der frühere leidenschaftliche Wanderer: Meine Frau steht in ihrem jetzigen Leben irgendwo draußen auf einer Lichtung. Wir Gesunden versuchen vielleicht, sie zurück in den schützenden Wald zu holen. Dabei müssen jedoch wir raus aus dem Wald, hin zu ihr auf die Lichtung. Wir müssen auf die Betroffenen eingehen und uns dabei selbst zurücknehmen.

Die Lichtung der Reicherts ist das eigene Reihenhaus, in dem sie seit 43 Jahren leben und in dem alle Dinge weitgehend so stehen und liegen wie vor Ausbruch der Krankheit auch. Gewohnte Umgebung ist wichtig, und wenn Jutta Reichert mal wieder die Fotos der zwölfjährigen Enkeltochter umschmeißt, die sie darauf scheinbar nicht mehr erkennt und von der sie früher noch als „meiner Süßen“ sprach, dann rückt Ehemann Wolfgang anschließend die Rahmen wieder ruhig zurecht. „Man kennt diesen Menschen ein Leben lang“, sagt Reichert, „hat viele Dinge gemeinsam gemeistert – und nun hat sie sich verändert. Sie soll sich aber weiterhin sicher und geborgen fühlen. Deshalb muss ich Ruhe und Gelassenheit ausstrahlen.“

Mit Geduld wird jeder Tag strukturiert. Halb sieben aufstehen, viertel nach neun ins Bett, feste Zeiten fürs Essen und auch für die Toilettengänge. Vier Mal die Woche für ein paar Stunden der Besuch in einer diakonischen Pflegeeinrichtung, und zwei Mal täglich ein bisschen spazieren gehen, „dadurch bleibt sie mobiler.“ Abends, sagt Wolfgang Reichert, „abends weiß ich immer, dass das morgen wieder so sein wird.“ Nicht nur seine Frau, auch er muss große Belastungen ertragen können. Aber nichts, was da noch frustrieren könnte, „die Krankheit ist Tatsache. Und so lange ich kann, will ich meine Frau nicht weggeben.“

Wenn wie bei den Reicherts keinerlei Gespräch, keine verbale Kommunikation mehr möglich ist, werden Stimmungen und Atmosphäre umso wichtiger. Die Sprache des Körpers ersetzt die der Worte, schafft Vertrautheit und Geborgenheit. Immer wieder die Umarmung und der Kuss, und beim ins Bett bringen ein Streicheln über die Wange, sagt Wolfgang Reichert, und seine Frau antwortet ihm darauf mit wohligem Murmeln. „Sie ist ja so schmusig geworden“, strahlt der Ehemann.

Wie viele andere Angehörige von Alzheimerkranken, hat auch Wolfgang Reichert anfangs nicht sofort erkannt, gegen welche Kräfte seine Frau plötzlich zu kämpfen hatte, hat zunächst nicht verstehen können, welche Verantwortung er künftig zu schultern hat. Als Ärzte vor zwölf Jahren den Befund ausstellten, taten sie es mit fachmedizinchinesischen Worten, „ich blieb zurück wie ein hilfloses, blindes Huhn.“ Dabei ist die frühe und verständliche Diagnose wichtig. Angehörige müssen wissen, wie sie auf Kranke zu reagieren haben. Sie müssen zunächst vor allem verstehen können, dass nicht Boshaftigkeit, sondern Krankheit Grundlage von Verhaltensänderungen ist.

Viele sind hoffnungslos überfordert im Umgang mit Erkrankten. Fast die Hälfte der pflegenden Angehörigen, so schätzen Experten, entwickeln mit der Zeit selbst psychische Erkrankungen wie Depressionen. Menschen wie Wolfgang Reichert wollen deshalb auch Mut machen. Man dürfe keine Angst vor der Situation haben, dürfe die Kranken ebenso wenig ausgrenzen wie die Angehörigen. Früher hatten er und seine Frau einen großen Bekanntenkreis. „Etliche haben sich abgewandt, weil sie wohl unsicher sind, wie sie sich verhalten sollen. Man vereinsamt über die Jahre und bräuchte doch Menschen, denen man sich auch mal anvertrauen könnte.“

Seine Frau muss auf einmal laut niesen. „Gesundheit“, ruft Ehemann Wolfgang ihr zu, und bei Jutta Reichert flackern ganz plötzlich ein paar Lebenslichter auf. „Ach so“, antwortet sie, und ihr Mann freut sich.