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Archiv-Artikel

Kleiner Beißer

Der Bürgerprotest müsse weiterleben, die CDU sich vor ihm fürchten und sein Gegner begreifen, dass er sich um einen hochpolitischen Job und nicht „für eine Werbeagentur“ bewerbe. Man sieht: der OB-Kandidat greift an, ohne mangelndes Selbstbewusstsein. Im Kontext-Interview appelliert der Grüne Fritz Kuhn an die S-21-Gegner, sich weiter um die Stadt zu kümmern, und verspricht der Bürgergesellschaft, sie „mindestens genau so wichtig“ zu nehmen „wie den Daimler“. Für seine Partei nimmt er die „kulturelle Hoheit“ in Anspruch, der CDU hält er vor, ins „Leichte der Luftikusse“ abgedriftet zu sein. Und selbst vor dem Fassanstich auf dem Wasen habe er keinen Bammel

Fritz Kuhn im Gespräch mit Josef-Otto Freudenreich Fotos: Martin Storz

¿Herr Kuhn, jetzt also der PR-Profi Turner als Gegenkandidat. Ist das gut oder schlecht?

Kommt ja drauf an, für wen. Fakt ist, dass er sich für einen hochpolitischen Job bewirbt und nicht für eine Werbeagentur.

Turner hat sich schon mal flott auf Sie eingeschossen. Er nennt Sie einen „Prellbock als OB“ und sieht sich qua Profession im Vorteil. „I komm vom Gschäft, der Kuhn vom Gschwätz“, sagt er.

Psychoanalytisch betrachtet eine hochinteressante Aussage. Herr Turner scheint mich jedenfalls nicht zu kennen. Sonst hätte er so was nicht gesagt.

Nach 98 Prozent Ja-Stimmen von der eigenen Partei dürfen Sie sich stark fühlen. Das sind eigentlich SED-Ergebnisse.

Die Anspielung auf die SED ist geschenkt. Das ist ein journalistischer Aufreißer, der nicht wahrheitsführend ist. Es ist einfach ein gutes Ergebnis, das zeigt, dass die Grünen hinter meiner Kandidatur stehen. Und die Grünen wissen, dass der Rückhalt bei einer solch schwierigen Aufgabe ziemlich wichtig ist.

Man konnte fast den Eindruck gewinnen, ein neuer Messias wäre erschienen.

Bitte nicht ins Metaphysische abheben. Es hat mich gefreut, dass das Ergebnis so eindeutig war.

Die grüne Liebe zu Fritz Kuhn war nicht immer so.

Es ist richtig, dass ich in meinen dreißig Jahren bei den Grünen bei so manchen Abstimmungen knappere Ergebnisse gehabt habe. Das liegt daran, dass ich viele nicht so Mainstream-mäßige Dinge gesagt und gemacht habe. Diese Kandidatur hat einen anderen Charakter. Die Grünen spüren, dass man hart kämpfen muss, und haben dafür einen ausgesucht, der das kann.

Heißt das, dass es keine Fundis mehr in Baden-Württemberg gibt?

Ich bitte Sie, diese Schublade gibt es seit fünfzehn Jahren nicht mehr. Damals ging es um die Systemfrage: Beteiligt man sich an der Macht oder nicht? Diese Frage ist beantwortet. Heute werden die Strömungen nur noch in Findungskommissionen für Personalvorschläge virulent. Man hat sich einfach gefragt, wer kann das Ding gewinnen, und ist dann auf mich gekommen.

Wenn die Fundis bei den Grünen ausgestorben sind, dann gibt es immerhin noch eine Linke, die Sie für einen Neoliberalen hält.

Das sind absurde Behauptungen der Linkspartei. Gerade das Thema der sozialen Gerechtigkeit ist bei mir ein Kernbestandteil meiner Politik. Die Verbindung von Ökonomie und Ökologie trägt nur nachhaltig, wenn sie auch soziale Gerechtigkeit bringt. Wer Ökologie gegen soziale Fragen stellt, wird immer verlieren. Siehe fünf Mark für den Liter Benzin. Das ist also alter Quark, den die Linkspartei immer wieder breittritt. Interessanter finde ich, wenn die beiden Kollegen von der SÖS/Die Linke-Fraktion, Hannes Rockenbauch und Thomas Adler, erzählen, sie wollten eine dauerhafte außerparlamentarische Opposition, und selbst sitzen sie im Gemeinderat. Und sie wollen einen eigenen Kandidaten. Das halte ich für einen Widerspruch in sich.

Der linke Kandidat kommt womöglich.

Wenn einer kommt, kommt er. Das kann ich nicht verhindern. Entscheidend wird dann sein, allen S-21-Gegnern klarzumachen, dass es am Ende einen schwarzen oder roten Oberbürgermeister geben kann, wenn man nicht grün wählt. Die Erfinder und Protagonisten von S 21 würden sich darüber ins Fäustchen lachen.

Da macht sich der „bürgerliche Grüne“ besser.

Das Wort Bürger schillert. Wenn man darunter spießig versteht, trifft es auf mich nicht zu. Wenn man darunter den Menschen versteht, der sich in die Belange des Gemeinwesens einmischt, im Sinne eines Citoyen, dann hat das einen anderen Klang. Und so verstehe ich mich.

Stuttgart gilt als die Bürgergesellschaft schlechthin. Ist es deshalb sexy, von Berlin nach Stuttgart zu wechseln?

Ich bin Modebewegungen gegenüber abhold. Mir ist jedenfalls klar, dass der Protest gegen S 21 nicht nur einen Bahnhof ablehnt, sondern eine kulturelle und soziale Bewegung darstellt. Wenn ich das nicht spannend fände, hätte ich ein Brett vor dem Kopf.

Jetzt kommen Sie gleich mit der Politik des Gehörtwerdens.

Einwand des gelernten Linguisten: Das Gehörtwerden ist im Prinzip richtig, aber mir wäre das Hören und Zuhören lieber. Im Gehörtwerden steckt ein Oben und Unten oder zumindest ein passivistisches Element. Eine Bürgergesellschaft ist etwas Aktives.

Und ein Teil davon ist zornig, voller Ohnmachtsgefühle, ruft „Kretschmann weg“ und will die Grünen nicht mehr wählen.

Mir ist völlig klar, dass viele Menschen, gerade nach dem Fällen der Bäume, in einer schwierigen Lage sind. Da geht es schon um so etwas wie „Trauerarbeit“. Völlig überzogen sind aber die Schuldzuweisungen an Kretschmann. Es gab eben rechtsgültige Verträge. Und der Volksentscheid hat den Ausstieg daraus nicht gebracht. Man kann nun lange darüber diskutieren, ob das Kritische genug betont worden ist, aber die Wahrheit ist doch, dass die Schuldigen bei den Schwarzen sitzen und bei den Roten, die ihnen Feuerschutz gegeben haben. Im Übrigen darf ich daran erinnern, dass der Erfinder des Feuerschutzes ein gewisser Uli Maurer war. Der heutige Oberlinke hat damals, als er noch SPD-Vorsitzender war, dafür gesorgt, dass die SPD aus dem Projekt nicht ausgestiegen ist. Die Schmiedels und Drexlers hatten damals noch nicht viel zu melden.

Die rechtsgültigen Verträge basierten auf ganz anderen Kenntnisständen.

Aber sie gelten dennoch. Die einzige Alternative der Grünen wäre gewesen, nicht in die Regierung einzutreten. Aber da hätte ich nicht erleben wollen, was los gewesen wäre, wenn die Chance vertan worden wäre, die Schwarzen nach 58 Jahren loszuwerden. Da wären wir zu Recht auf den Mond geschossen worden. Als Oberbürgermeister kann ich der Bahn zumindest auf die Pfoten hauen, wenn sie wieder mit abenteuerlichen Forderungen kommt. Ich kenne sie aus Berlin sehr genau und weiß, dass sie sofort bei der Bundesregierung vorstellig wird und Geld will, wenn etwas schiefgegangen ist. Einen solchen Sponsor würde ich Kontext auch wünschen.

Abgelehnt. Wir tendieren eher zur Annahme von Peter Conradi, der sagt, den Grünen habe eine Strategie zum Ausstieg gefehlt. Schlichtung, Stresstest, Volksabstimmung – alles wurde brav mitgemacht.

Große Teile der Gegner sind hier immer mitgegangen. Ich darf aber auf etwas anderes hinweisen: Die CDU, SPD und FDP, alle S-21-Befürworter, hatten bei allen Wahlen die Mehrheit. Das heißt, wir sind mit einer gewissen gefühlten Mehrheit drangegangen, die nicht der Realität entsprochen hat.

Sie wollen doch nicht der Pressesprecher der Landesregierung sein.

Das bin ich auch nicht. Als Oberbürgermeister können Sie zwangsläufig Konflikte mit der Landesregierung haben, weil die Interessenlagen verschieden sein können. Ich bin nicht in Haftung zu nehmen für alles, was die Regierung macht.

Hat Sie überrascht, dass Kretschmann im Parkschützer-Lager mit Mappus verglichen wird?

Dieser Vergleich trifft nicht zu. Ich kann da nur raten, genau zu sein. Kretschmann hat zum Beispiel wesentlich dazu beigetragen, dass der Atomausstieg schnell gekommen ist. Im Bundesrat hat er durchgesetzt, dass die Meiler früher abgeschaltet werden, als es Merkel wollte. Jetzt kann ich sagen: Das ist mir doch egal. Aber so funktioniert Politik nicht.

Das werden Sie noch eine Weile ertragen müssen.

Das halte ich alles aus. Ich ersticke nicht in aggressiver Verzweiflung. Ich kann die Enttäuschung verstehen, wenn jemand immer wieder vor dem Bahnhof gestanden ist und auf die Grünen als Retter gehofft hat. Aber wir haben nicht gewonnen, sondern verloren. Und ich will gerade deshalb an die Enttäuschten appellieren: Kümmert euch weiter um eure Stadt! Zynismus, Resignation und Verzweiflung sind keine Lösung, die Bewegung muss weiterleben, aber über den Bahnhof hinaus. Sie muss zur Kenntnis nehmen, dass das reiche Stuttgart Armut zulässt und dass man dagegen etwas tun muss, weil Armut ein Problem der ganzen Stadt ist. Nehmen Sie nur den Feinstaub, diese soziale Drecksauerei, die insbesondere die Anwohner der Hauptverkehrsstraßen trifft.

Sie werden es immer mit dem alten Machtapparat zu tun haben.

Darum geht es auch bei der OB-Wahl. Die CDU sieht die Niederlage bei der Landtagswahl als Betriebsunfall und versucht jetzt eine Reconquista zu organisieren. Das geht über die Bürgermeister, Landräte, Industrie- und Handelskammern und so weiter, und deshalb muss derjenige, der die CDU dauerhaft in die Opposition schicken will, grün wählen.

In der Tat scheint diese Option die Konservativen zu schrecken. Ihr Hauptfeind heißt Kuhn.

Ich will jetzt nicht hochnäsig sein. Aber das verstehe ich. So zerrissen, wie die Schwarzen sind, müssen sie einen Kandidaten wie mich fürchten, der die Wertkonservativen erreicht. Die CDU ist durch Oettinger und Mappus ins Leichte der Luftikusse abgedriftet, und darunter leiden viele Christdemokraten.

Das Liebäugeln mit den Schwarzen ist also passé? Der Oberrealo Kuhn war in Baden-Württemberg der Erste, der's probiert hat.

Ich habe mit Erwin Teufel 1992 Sondierungsgespräche über eine schwarz-grüne Koalition geführt. Das stimmt. Das Ergebnis nach 14 Tagen war, dass nichts zusammenpasst. Kinder, Frauen, Integration – er hat gar nicht geglaubt, was wir so alles wollten. Daran hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert, und das hat dazu geführt, dass die CDU keine Großstadtpartei mehr ist. Angela Merkel hat das kapiert, aber das bisschen Moderne, was sie hat, kriegt sie mit dem Reaktionären nicht zusammen. Die beiden Großversuche Hamburg und Saarland sind nicht von ungefähr gescheitert. Also bemühen wir die Empirie. Gesellschaftspolitisch stehen wir den Sozialdemokraten näher.

Einer oder eine von denen wird gegen Sie antreten.

Es kommt, wie's kommt. Ich traue mir zu, in allen Lagern dieser Stadt Stimmen zu gewinnen. Am Ende ist es eben eine Persönlichkeitswahl. Da tritt nicht grün gegen schwarz an, aber auch kein Ego-Wahlkämpfer nach dem Motto: Das ist der Fritz Kuhn und der Fritz Kuhn und der Fritz Kuhn. Ich sage, für welche Inhalte ich stehe, und danach kommt die Personalisierung.

Die Inhalte sind?

Die Stadt muss Wirtschaft und Ökologie zusammenbringen. Ohne Ökologie gibt's keinen wirtschaftlichen Erfolg mehr, und ohne soziale Gerechtigkeit, im Sinne von: Wir lassen keinen fallen, ist alles nichts.

Das könnte auch Kandidat Turner unterschreiben.

Die Grünen sind hegemonial geworden, und nach Antonio Gramsci bedeutet Hegemonie eine gewisse kulturelle Hoheit. Deshalb müssen die anderen viel Grünes sagen.

Green City zum Beispiel oder Greengart.

Das ist Unfug. Der Schwabe braucht keine Green City. Ein Bürgergarten isch besser als Urban Gardening. Entscheidend ist doch, was sie daraus machen. Ich habe zuletzt im Hotel Ketterer gewohnt, und dabei festgestellt, dass in diesem Viertel alles zugedeckelt ist. Mit Spielcasinos und Beton. Als Oberbürgermeister muss ich sagen: Ich will dort Bäume.

Die fallen eher.

Die Frage ist doch, ob Sie sich zum Beispiel mit Investoren anlegen wollen. OB Schuster hat immer erklärt, er verliere den Investor, wenn er sich nicht nach seinen Wünschen richte. Da kann ich nur sagen: Das ist mir wurscht, dann gibt's einen anderen. Kluge Stadtpolitik spielt mit den Investoren. Die Stadt ist so reich und wertvoll, dass sie selbstbewusst auftreten kann.

Sie wollen doch nicht etwa an den Primat der Politik erinnern.

Spotten Sie nicht! Auf der ganzen Welt hat die Finanzökonomie das Sagen. Aber für mich heißt der entscheidende Satz: Wir wollen keine Wirtschaft sein, sondern eine Wirtschaft haben. Ich weiß, das ist ein langwieriger Kampf, den Primat der Politik wiederzuerlangen. Aber er muss geführt werden. Das ist eine Generationsaufgabe.

Ihr Parteifreund Kretschmann meint, die Zivilgesellschaft müsste einmal so viel Einfluss haben wie die Lobbyisten der Wirtschaft.

Das hat etwas mit dem Selbstbewusstsein der Politik zu tun. Ich sage den Lobbyisten immer: Wenn ihr Informationen habt, dann teilt sie mit, aber ich glaube euch nicht. Vor zwanzig Jahren haben sie uns erzählt, sie hätten die Arbeitsplätze ihrer Auftraggeber im Sinn. Heute sprechen sie von Deutschland und Europa, in deren Interesse sie handelten. Sie treten auf, als würden sie das Gemeinwohl vertreten. Das muss die Politik zurückweisen.

Sie werden in Stuttgart nicht nur von Lobbyisten, sondern auch von Unternehmern umzingelt sein.

Ich hab nix gegen Unternehmer und Unternehmerinnen. Ohne die geht's nicht. Natürlich wird man in Stuttgart nicht gegen den Daimler Politik machen können. Aber die Bürgergesellschaft ist mindestens genau so wichtig wie der Daimler. Das ist das Neue. Ich werde auch mit dem Fahrradfahrer reden, der für eine ganz andere Verkehrskonzeption kämpft. Die Kunst wird sein, diese gegensätzlichen Interessen zusammenzubringen.

Das kommt ziemlich forsch daher.

Ich lasse mir von niemandem vorhalten, wirtschaftlich und ideologisch korrumpierbar zu sein. Das hängt mit der Distanz zusammen, die ich im Politikbetrieb immer gehabt habe. Ich bin nie im Strudel der Politik untergegangen, sondern habe gelegentlich auch am Ufer gesessen und über die Politik und mich nachgedacht.

Kuhn, der coole Typ.

Ich bin nicht cool. Ich bin ein reflektierter, unaufgeregter Typ, der über ein bestimmtes Maß an Bescheidenheit und Gelassenheit verfügt. Lieber noch mal nachdenken und dann sprechen als umgekehrt. Ich muss nicht zum Volkstribun werden. Max Weber hat immer von der sterilen Aufgeregtheit der Politik geredet, und die ist mir nicht eigen.

Der Fassanstich auf dem Wasen würde dann schwer.

Warum sollte ich davor Bammel haben? Ich bin handwerklich begabt und verfüge über die nötigen Muckis. Und wenn’s net funktioniert, funktioniert’s halt net. Das ist die Alltagserfahrung vieler Menschen, die sich bei Ikea ein Regal kaufen und es nicht zusammenkriegen.

Fritz Kuhn (56) ist in Bad Mergentheim geboren, in Memmingen aufgewachsen und hat in Tübingen Germanistik und Philosophie studiert. Von 1989 bis 1992 arbeitete er als Professor für sprachliche Kommunikation an der Merz Akademie in Stuttgart. Kuhn gehört zu den Gründungsmitgliedern der baden-württembergischen Grünen, war Bundes- und Fraktionsvorsitzender in Berlin und zuletzt Fraktionsvize. Das Amt hat er wegen der Stuttgarter OB-Kandidatur niedergelegt. Von den S-21-Gegnern will er nicht als kleineres Übel betrachtet werden. Kuhn über Kuhn: „Ich bin zwar klein (1,68 Meter), aber gar nicht übel.“