: Wo waren Sie, als Rot-Grün unterging?
Am Sonntag gegen 18.30 Uhr verkündete Franz Müntefering (SPD) den Plan vorgezogener Bundestagswahlen. Und gestand damit ein, dass das rot-grüne Projekt gescheitert ist. Fünf Schilderungen eines historischen Moments
Christoph Schlingensief
Ich habe um sechs mit meiner Freundin zu Hause vor dem Fernseher gesessen. Ich komme ja aus Nordrhein-Westfalen, aus Oberhausen. Als die CDU und die SPD dann so abgestürzt sind, war mein erster Gedanke: „Ich muss meinem Vater gratulieren!“ Der ist 80 Jahre alt, bekennender CDU-Wähler und hat 39 Jahre auf diesen Moment gewartet. Persönlich habe ich schon auch einen ganz schönen Bratz auf die Grünen und auf die SPD. Die haben sich da unten einiges geleistet. Die Filmförderung haben sie komplett vernachlässigt, und die Innenstädte … Oberhausen zum Beispiel ist ein Loch geworden, das Zentrum ist total verödet, dafür haben sie dahinter ein riesiges Einkaufszentrum hochgezogen, in dem es aber auch nur Ramsch zu kaufen gibt. Ich persönlich habe tief in mir drin das Gefühl, dass es den Leuten da ganz gut tut, dass sie mal die CDU ausprobieren können. Die Nachricht, dass es jetzt plötzlich Neuwahlen geben soll, hat mich nicht sonderlich aufgewühlt, ich gehöre nicht zu der Fraktion, die bei so was weint. Aber spannend ist das schon, wie Schröder und auch die CDU-Kollegen jetzt versuchen, ihre Köpfe zu retten. Dieses Gerede von Verantwortung und Wählerwillen, das ist doch alles Geschwätz. Die großen Parteien hatten alle schon ihre Wahlplakate in der Schublade und rasen mit der Dampfwalze los, um das noch schnell unter sich auszumachen. Dabei müsste es genau jetzt die Chance geben, dass sich neue Parteien gründen. Den Alten trauen die Leute doch nichts mehr zu.
Aber bis zum Herbst reicht dafür die Zeit nicht mehr. Ich weiß, wie mühselig das ist, eine Partei aus dem Boden zu stampfen.
Christoph Schlingensief, 45, arbeitet vor allem als Theaterregisseur
Nicol Ljubic
Noch bevor die ersten Ergebnisse vorliegen, sagt ein Genosse zu mir: Keine Sorge. Wir haben schon ganz andere Zeiten überstanden. Er meint Bismarck und Hitler. Ich habe ihn dann nicht mehr getroffen, sodass ich nicht weiß, ob er nach allem, was dieser Abend noch bringen wird, immer noch so optimistisch ist. Es ist viel los im Foyer des Willy-Brandt-Hauses, die Menschen drängen sich um das Buffet mit Düsseldorfer Senfsuppe, und weil auf jeden Genossen ein Journalist kommt, ist auch jeder irgendwie im Bild. Alles scheint zu sein wie immer. Die SPD verliert, sogar deutlicher als befürchtet. Und die Genossen, daran gewöhnt, nehmen es stoisch auf. Dann aber tritt der Parteichef höchstselbst aufs Podium und wird beklatscht, als habe er gerade die Bundestagswahl gewonnen. Von der spricht er dann auch, allerdings von einer, die in diesem Herbst stattfinden soll. Das kann nur ein Versprecher sein, da bin ich mir mit der Genossin, die neben mir steht, einig. Und so denken offensichtlich die meisten. Erst mit Verzögerung setzt die Irritation ein. Was hatte Franz da eben gesagt? Neuwahlen? Spinnt der? Im Bund krebst die SPD doch gerade bei 30 Prozent herum. Als Franz von der Bühne geht, bleibt die große Ratlosigkeit zurück. Niemand hatte eine Ahnung von dem gehabt, was dieser Abend bringen würde. Nicht mal die Genossen aus dem Parteivorstand. Wir fühlen uns, als wären wir kollektiv vor die berühmte Dampfwalze geraten. Wem ich auch begegne, die Fassungslosigkeit ist ihm im Gesicht geschrieben. Warum dieser Entschluss? Und seit wann steht er fest? Und wer hat ihn gefasst? Mein erster Gedanke: Das hat Größe, die eigene Politik vorzeitig zur Wahl zu stellen. Das Kalkül aber ist nicht nur mir, sondern allen Anwesenden zu diesem Zeitpunkt ein Rätsel. Aber auch das ist nichts Neues, dass der Genosse denkt und der Gerd lenkt. „Auf diesen Schreck“, sagt die Genossin neben mir, „brauche ich erst mal ein paar Schnäpse.“
Nicol Ljubic, 32, ist Autor des Buches „Genosse Nachwuchs“, in welchem er seine Erfahrungen als Neumitglied der SPD beschreibt
Ute Vogt
Ich habe just in dem Moment den Stuttgarter Landtag betreten, als Franz die Neuwahlen angekündigt hat. Dort hatte ich einen Interviewtermin mit dem SWR. Gott sei Dank hat mich auf der Treppe noch der Fraktionsvorsitzende abgefangen, der ganz aufgeregt sagte: „Hast du schon gehört?“ Und dann hat er mir erzählt, dass Neuwahlen angekündigt waren. „Ach, echt?“, habe ich geantwortet. Im ersten Moment war ich einfach nur überrascht. Und dann habe ich plötzlich wieder Motivation in mir gespürt. Diese Niedergeschlagenheit war weg. Nach so einer Wahlniederlage denkt man ja, wenn man zu einem Interview geht: Ach Mensch, was soll ich denn den Leuten jetzt noch sagen? Jetzt fühle ich mich nicht mehr so hilflos.
Nach dem Interview habe ich erst einmal ein paar Telefonate geführt, es gibt ja viel zu regeln jetzt. Diese Woche wollte ich mit dem Motorrad nach Frankreich fahren, das ist natürlich jetzt gestorben. Abends habe ich dann ein paar Kollegen zusammengetrommelt. Ich konnte da nicht gleich nach Hause gehen. Ich brauchte erst einmal ein Bier.
Ute Vogt, 40, ist Vorsitzende der SPD in Baden-Württemberg, stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende und Staatssekretärin im Innenministerium
Friedrich Küppersbusch
Rechtzeitig zur ersten Hochrechnung stürzte im Dortmunder Süden das TV-Bild ab. Zum Glück versagt der Dienstleister „ish“ so regelmäßig, dass wir nicht lange an einen „Wehrwolf“-Befehl Steinbrücks glaubten, der bei der Gelegenheit auch die Rheinbrücken sprengen lässt. Ich fahre los, meine Tochter von ihrer Freundin abzuholen, unterwegs rief Kollegin Leo Busch an: „Sommerpause ausfallen lassen wegen Neuwahlen?“ Ich: „Neuwahlen wären Selbstmord, keine Sorge.“ Mache das Autoradio an, erste Zitate à la „Schröders Selbstmord aus Angst vor dem Tod“. Na, ich bin ja wieder Weltklassejournalist heute. Eltern der Tochterfreundin betrübt: ellenlanges deutsches Einbürgerungsverfahren vermutlich erst zu Ende, wenn Bundestagswahl längst gelaufen. Zwei Stimmen weniger, die sich Rot-Grün redlich erarbeitet hat. Später Wiederholungen eines honorigen Abgangs Steinbrücks, eines von der Tragweite seines Sieges überforderten Rüttgers, einer optisch und moralisch getuneten Merkel. Bei Christiansen sitzt das Rumpelstilzchen von der Saar: Vielleicht gingen Schröder und Lafontaine nicht zusammen, weil im entscheidenden Moment Schröder selbst den Oskar macht.
Friedrich Küppersbusch, heute 44 Jahre alt geworden, ist TV-Produzent
Klaus Harpprecht
Nein, keiner sank mit einem Schrei der Verzweiflung zu Boden, als das ZDF via Satellit die erste Hochrechnung über die Alpen schickte. Es war gekommen, wie es hatte kommen müssen. Unsere Stimmung? So glattgebürstet wie die Frisur der schönen Frau Gerster und das intelligente Konfirmandengesicht ihres gut gelaunten Kollegen Seibert. Wir merkten erst auf, als Müntefering mit einer preiswürdigen Parodie der Leichenbittermiene die Neuwahl des Bundestages für den Herbst ankündigte. Kleiner Seufzer der Dankbarkeit: damit könnten wir die Kapitalismusdebatte los sein, mit der uns der sauertöpfischste aller Sauerländer seit Wochen zermürbt hat: als eine Art Archäologe des Sozialismus, dem in der Krise nichts anderes einfiel, als die Knochen der Steinzeit-SPD auszugraben, die seit dem Ende der Fünfzigerjahre im Schatten der Godesburg verscharrt waren. Strafe muss sein: unter anderem hat die Partei auch für die Flucht in die reaktionärste Langweilerei gebüßt. Wenn sie zum Sturm gegen den Talentmangel im deutschen Management (und, in exakter Entsprechung, im Führungscorps der Gewerkschaften) geblasen hätten: beide für den Verfall der deutschen Ökonomie nicht weniger verantwortlich als Kohl und seine Wiedervereinigung – das wäre ein Fest gewesen. Kann im Herbst nachgeholt werden. Der Kanzler? Niemals besser als bei seiner knappen Ankündigung des selbst inszenierten Sturzes, der nun fällig ist. Mit dem Rücken zur Wand ist Schröder immer für Überraschungen gut. Kleines Glück im Unglück: Steinbrück, der Verlierer, machte eine glänzende Figur: sein Auftritt hatte Würde und Stil. Ein Kandidat für den Parteivorsitz – und hernach für die Kanzlerschaft, wenn sich Frau Merkel an den bayrischen Intrigen aufgerieben hat.
Nach der Kanzlerbotschaft das Spektakel abgeschaltet. Später ein Mafia-Krimi mit Alain Delon. Fast so schön wie deutsche Politik. Inniges Nachtgebet: Der Herr möge uns einen Außenminister Westerwelle ersparen und uns lieber einige Jahre mit dem Gottesgnaden-Langweiler Gerhardt heimsuchen. Auch vor einer Staatssekretärin Mathiopolos im Auswärtigen Amt oder im Verteidigungsministerium möge er uns verschonen. Für die forsche Neo-Freidemokratin fände sich im Verkehrsministerium oder im Bundespresseamt vielleicht ein warmes Plätzchen. Oder in der Bildung. Im Vertrauen auf solche Tröstung schliefen wir sanft.
Der Publizist und Autor Klaus Harpprecht, 78, war Redenschreiber des SPD-Kanzlers Willy Brandt und lebt heute in Südfrankreich